Tag 9: Dornach

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Samstag, der 3.10.2015

Eigentlich sollte dieses Wochenende ruhig verlaufen. Am Freitag wurde niemand mehr erwartet und der Sonntag wurde sogar zum Ruhetag deklariert. Jedoch kam überraschenderweise nachmittags die Meldung, dass doch Busse erwartet werden. Ich machte mich also auf den Weg und war von 18:30 Uhr bis ca. Mitternacht in der Notunterkunft. Es kamen zwei Busse an. Viele der ankommenden Flüchtlinge wurden bereits in Erstaufnahmeeinrichtungen registriert, jedoch aufgrund von Überfüllung wieder nach Dornach gebracht. An dem Abend kam es wieder zu einigen Begegnungen.

Begegnung 1

Ein junger Mann unter 18 Jahren bittet mich, seinen Onkel anzurufen. Dieser war auf dem Weg nach Dornach, um ihn abzuholen. Jedoch hatte er Probleme, die Unterkunft zu finden. Während wir warteten, kamen wir ins Gespräch:

  • „Woher kommst du?“, frage ich.
  • „Aus dem Irak. Ich bin Jeside.“ (Es war mein erstes Gespräch mit einem Jesiden.)
  • „Bist du alleine hier?“
  • „Nein, mit meinem kleinem Bruder und meiner Schwester.“
  • „Seid ihr vor Daech geflohen?“ Im Arabischen wird der IS ‚Daech‘ genannt. Es ist eine Abkürzung von ‚Islamischer Staat im Levant und im Irak‘. Die meisten Araber, die ich kenne, nennen die IS-Anhänger verachtend ‚Dawa’isch‘.
  • „Ja, sie haben unser Dorf angegriffen.“
  • „Es ist eine Schande was sie tun…“ sage ich bedrückt.
  • „Sie haben die Männer geschlachtet und die Frauen und Mädchen entführt.“
  • „Oh Gott, sie sind Barbaren!“. Mir fehlen die Worte. Nach einer Weile frage ich: „Wie seid ihr ihnen entkommen?“
  • „Wir waren in einem Nachbardorf, als sie angegriffen haben.“

Schweigend warten wir, bis der Onkel ihn und seine Geschwister abholt.

Begegnung 2

Ein schwarzafrikanisches Paar steigt aus einem Bus. Der Mann ist so groß und muskulös, als würde er in einem Actionfilm mitspielen. Die Frau ist hochschwanger. Ich frage, ob sie Arabisch sprechen. Die Frau sagt:

  • „Ich spreche arabisch.“
  • „Woher kommt ihr?“
  • „Ich bin aus Libyen.“
  • „Ah willkommen! Ich bin Tunesier.“
  • „Ah schön, sei auch du willkommen.“ (Tunesier und Libyer haben einen sehr ähnlichen Akzent und verstehen sich deshalb sehr gut.)
  • „Spricht dein Mann kein Arabisch?“
  • „Nein, er ist Malier.“

Begegnung 3

Es ist bereits spät und ich bekomme Hunger. Ich setze mich, esse eine Suppe und dazu ein Brötchen. Ein etwas dickerer Syrer, um die 25 Jahre alt, setzt sich zu mir. Er sieht relativ gut gelaunt aus und wünscht mir einen guten Appetit. Ich frage ihn, woher er kommt.

  • „Aus Halab.“ sagt er.
  • „Bist du alleine hier?“
  • „Nein, ich bin mit meiner Mutter gekommen. Wie ist es in Deutschland? Was kannst du mir raten?“
  • „Deutschland ist ein schönes Land. Wenn ich dir einen Rat geben kann, dann ist es, die Sprache gut zu lernen.“
  • „Ja, ich warte nur, dass ich irgendwo unterkomme, um mit dem Lernen anzufangen.“ In diesem Moment bemerke ich ein Tattoo an seinem Handgelenk: eine Art verschnörkelte Pflanze. In der Mitte des Tattoos glaube ich, ein Kreuz zu erkennen.
  • „Darf ich fragen, ob du Christ bist?“, frage ich und deutete auf das Tattoo.

Er lacht und sagt: „Nein bin ich nicht. Jeder, der das sieht, denkt das Gleiche, aber es sollte eigentlich etwas ganz anderes werden. Jedoch ist dem Tattoowierer ein Fehler passiert.“

  • „Warst du Student oder hast du gearbeitet, bevor du hergekommen bist?“
  • „Ich habe Arabisch auf Lehramt studiert. Leider wurde unser Haus zerstört und all meine Zeugnisse sind verbrannt. Ich habe lange versucht, sie mir im Ministerium bescheinigen zu lassen, aber ich habe es nicht geschafft. Zuletzt habe ich auf dem Bau als Fliesenleger gearbeitet.“
  • „Es ist unglaublich, dass trotz all der Zerstörung die Menschen immer noch bauen.“
  • „Ja so ist es. Wenn ein Haus zerstört wird, fangen die Besitzer oft am nächsten Tag an, es an gleicher Stelle wieder aufzubauen.“
  • „Was sollen sie auch machen?!“
  • „Wenn die Schulen zerstört werden, stellen die Lehrer Tafeln vor den Schulen auf, um die Kinder zu unterrichten.“. Ich erinnere mich, dass ich bereits Bilder von Schulklassen vor zerstörten Schulen gesehen habe.
  • „Weißt du, der Krieg dauert nun schon vier Jahre.“, sagt er. „Die Menschen fragen sich, was aus dieser Generation werden soll. Es wird eine Generation von Analphabeten.“. Dieser Gedanke kam mir noch nie. Doch es stimmt. Vielleicht ist bei all dem Tod und der Zerstörung diese verlorene Generation das größte Problem.
  • „Wir haben uns an die Bombardierungen und die Zerstörung gewöhnt.“, fuhr er fort. „Jedoch ist nichts mehr zum Leben übrig geblieben. Wir können unsere Familien und unsere Kinder nicht mehr ernähren. Deshalb fliehen wir.“
  • „Es ist eine Katastrophe, sie haben Syrien zerstört.“, sage ich.
  • „Ja und jetzt, wo Russland eingreift, ist Syrien endgültig verloren. Mein Bruder ist dort geblieben. Ich habe lange versucht, ihn zu überzeugen, mitzukommen. Aber er wollte nicht. Gestern habe ich mit ihm gesprochen und er hat mir gesagt, dass die Russen unsere Straße bombardiert haben.“ Er schwieg und seine Augen wurden rot. Er kramte sein Handy vor und sagte:
  • „Schau her, ich zeige dir was.“ Er zeigte mir ein Bild – ein Portrait – von einem kleinem lächelnden Mädchen. Vielleicht sieben oder acht Jahre alt. Mit Tränen in den Augen und zerbrochener Stimme sagt er: „Es ist unsere Nachbarin. Mein Bruder sagte, dass sie bei dem Angriff der Russen zerfetzt wurde und ihre Körperteile überall herum lagen.“

Begegnung 4

Ein junger Mann kommt in der Essensausgabe auf mich zu. Er nimmt mich zur Seite und sagt:

  • „Habt ihr noch Instant-Nudeln? Ich liebe diese Nudeln!“ Ich erkundige mich und jemand verspricht, im Lager nachzusehen. Ich frage den jungen Mann woher er kommt.
  • „Ladhiqia. Kennst du Ladhiqia? Da, wo die Giraffe herkommt.“
  • „Die Giraffe?“
  • „Ja unsere Giraffe. Du weißt schon…“ Ich verstehe, dass er Bashar El-Assad meint. Er wird von Gegnern manchmal wegen seines langen Halses ‚Giraffe‘ genannt.
  • „Wo kommst du her?“, fragt er mich.
  • „Ich bin Tunesier, Deutsch-Tunesier.“
  • „Tunesien ist frei, Tunesien ist frei!“, skandiert er scherzend und spielt damit auf die Demonstranten der tunesischen Revolution an. „Ihr habt die Revolutionen angezündet und habt es als Einzige einigermaßen geschafft.“ Wir unterhalten uns ein Weilchen über Tunesien. Dann frage ich ihn:
  • „Warum bist du geflohen?“
  • „Wir wurden ständig bombardiert.“
  • „Von wem wurdet ihr bombardiert?“
  • „Vom Regime, von der Armee.“
  • „Aber warum bombardiert Bashar seine eigene Heimatstadt?“
  • „Weil er die sunnitische Hälfte bombardiert.“ Bashar Al-Assad und die politische Elite des Landes sind Aleviten.
  • „Bist du auch Sunnit?“ fragt er mich.
  • „Ja in Tunesien, gibt es fast nur Sunniten.“
  • „In unserem Nachbarhaus ist eine Rakete eingeschlagen. Alles wurde dem Boden gleichgemacht. Eine Verwandte wurde in ihrem Auto, während sie fuhr, von einem Geschoss getroffen und war auf der Stelle tot.“

Begegnung 5

Ein Bus ist angekommen und den Menschen werden die Schlafplätze, je nach Nationalität, zugewiesen. Ein Mann aus diesem Bus spricht kein Arabisch, sondern nur schlechtes Englisch. Ich frage ihn, woher er kommt.

„Iran.“, sagt er.

Er ist der einzige Iraner in der Unterkunft. Es sind viele Syrer und Iraker hier, die mögen aber keine Iraner aufgrund deren Implikationen in den Kriegen der Region. Also stelle ich ihn vor die Wahl: „Willst du in den Raum mit den Syrern, den mit den Irakern, den Afghanen oder den Afrikanern?“

Seine Antwort kommt prompt: „Afghanen!“. Viele Afghanen sprechen Farsi (persisch). Wahrscheinlich ist das auch ein Grund für seine Entscheidung.

Begegnung 6

Ein Paar mit drei Kindern steigt aus dem Bus. Es sind Syrer. Vater und Mutter tragen jeweils ein schlafendes Kind. Ein drittes Kind läuft mit halb geschlossenen Augen daneben. Alle sehen extrem müde aus. Die Frau ist hochschwanger. Jemand nimmt ihr das Kind ab. Später am Abend erzählt mir eine Helferin, dass die Frau bereits im neunten Monat schwanger ist und sie an dem Abend bereits alle 20 Minuten Wehen bekam.

Ich denke mir noch: Was muss einen Mann dazu bewegen, mit seiner hochschwangeren Frau und seinen drei Kindern in ein Schlauchboot zu steigen und das Meer zu überqueren?

 

Später

Ich liege im Bett und denke an die Tränen des Syrers aus Halab. Ich denke an all die Mächtigen, die ein Volk und ein Land zerstören. Und immer wieder sehe ich das Bild des kleinen syrischen Mädchens vor mir.

9 Gedanken zu „Tag 9: Dornach“

  1. Lieber Karim, in diesen ganzen Berichten ist das auch für mich immer wieder die unterschwellige Klangspur im Hintergrund: was sind das für Menschen, die alles das zu verantworten haben? Warum ist das immer wieder so, immer wieder seit hunderten von Jahren, in allen Kulturen, Ländern, Kontinenten?
    …. Keine Antwort.
    Wir können nur versuchen, den Opfern zu helfen. Heute ist bei den Katholiken das Fest des hl. Franziskus. Das war einer, der sich immer den Ärmsten der Armen gewidmet hat, der selbst vollständig arm wurde, zum „Minderbruder“ wurde, weil er fand, dass nur das Gottes Wunsch entsprechen konnte. Franz hat stets politische Macht abgelehnt, auch dort, wo sie ihm angeboten wurde. Wahrscheinlich wusste er, dass Macht aus Menschen allzuleicht Verbrecher macht…
    Freu mich aufs morgige Gespräch mit Dir.
    Xander

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    • Lieber Xander, dass Diktatoren so handeln liegt in deren Natur. Dass jedoch die Mächtigen, die etwas dagegen tun könnten, dem ganzen gleichgültig zuschauen, ist das schlimme. Denn nur das Schweigen der Gerechten ermöglicht den Ungerechten ihre Taten zu vollbringen.
      Vielleicht aber ist die Bewegung der Helfer im Sinne des Franziskus, die einzige mögliche Antwort, die in unseren Händen liegt. Und es ist auch eine Bewegung von der wir profitieren. Ein islamischer gelehrter sagte eins: Derjenige der hilft, sollte demjenigen der die Hilfe annimmt dankbar sein, denn es ist so einfach und befriedigend zu helfen und so schwierig Hilfe anzunehmen.
      Das Gespräch ist übrigens erst übermorgen.
      Karim

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    • Ich verstehe, wenn sich Menschen Gedanken machen und fragen stellen. Es ist ihr gutes Recht. Ich versuche die eine oder andere Antwort zu liefern.

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  2. Danke für die Berichte!

    Eine Frage, weil uns das manchmal in Berlin umtreibt: Flüchtlinge unter 18 Jahren gelten ja als „unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“, wenn sie nicht von älteren direkten Familienmitgliedern (Eltern, Geschwister) begleitet werden. Müssen die nicht getrennt untergebracht werden? In Berlin zumindest werden sie *nie* in die großen Sammelunterkünfte geschickt. Auch eine private Unterbringung geht nicht, und wohl nicht einmal bei Verwandten zweiten Grades (Onkel, Großeltern). Die Unterbringung in Einrichtungen für Minderjährige ist auch viel besser als in den großen und überfüllten Sammelunterkünften.

    Aus welcher Stadt sind die Berichte eigentlich? Das fand ich nirgendwo (und bin vielleicht einfach blind…)

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    • Hallo Joachim,
      auch bei uns werden Unbegleitete Minderjährige separat untergebracht. Ich berichte aber aus Notunterkünften und nicht aus einer Erstaufnahmeeinrichtung. Es gibt auch viele Flüchtlinge die erstmal zu Verwandten gehen um sich auszuruhen und zu duschen bevor sie sich dann wieder freiwillig registrieren lassen. Ich berichte aus München.
      viele Grüße
      Karim

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  3. Es tut so gut, zu hoeren, was die neuen Menschen denken. Beim lesen freue ich mich ueber den Zuwachs und die guten Absichten und dass sie leben und entkommen sind.
    Es ist eine bestaerkung mich weiter vor sie zu stellen.

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