Tag 27: Dornach

Samstag, der 02.01.2016.

Seit ein paar Tagen empfingen wir täglich zwei bis drei Busse, um die bis dahin leerstehende Unterkunft in Dornach zu füllen. An diesem Samstag wurden die letzten 100 Menschen angekündigt. Insgesamt 450 Flüchtlinge sollten ab diesem Zeitpunkt für ca. 6 Wochen in der Überbrückungsunterkunft leben. Ich kümmerte mich wieder um den Empfang der Busse und unterstützte bei der Aufnahme der Flüchtlinge. Es kam zu folgenden Begegnungen.

Begegnung 1

Ein junger Schwarzafrikaner sitzt im Empfangsbereich und wartet darauf, registriert zu werden. Ich gehe zu ihm und frage knapp: „Somalier?“

Er nickt.

„Sprichst du arabisch?“

Er lächelt mich an und sagt in einem sehr schönen Hocharabisch, das man selbst unter Arabern nur sehr selten hört: „Natürlich spreche ich Arabisch. Ist dir nicht bekannt, dass Somalia ein arabisches Land ist?“

Ich bin mir unsicher. Mir ist zwar bekannt, dass viele Somalier arabisch sprechen können – vor allem die Gebildeten -,  doch als arabisches Land hätte ich es nicht bezeichnet. Er sieht meine Verunsicherung und sein Lächeln wird breiter.

„Aber nicht alle Somalier sprechen Arabisch, nicht wahr?“, frage ich nach.

„Wir sprechen auch Somali, das stimmt. Viele beherrschen jedoch beide Sprachen“, antwortet er immer noch lächelnd.

„Somali sprechen alle, Arabisch jedoch nicht alle und vor allem nicht in der Familie. Richtig?“, hake ich nach.

„Ja, auch das ist richtig.“

„Also ist es kein arabisches Land, aber Arabisch ist dort Bildungssprache.“

„Ja, stimmt.“, sagt er und lacht. Dann fügt er hinzu: „Ich selbst habe an der Uni gelehrt.“

„Gelehrt? Du meinst, du hast an der Universität unterrichtet?“, frage ich verwundert, denn er sah sehr jung aus.

„Ja genau.“ Meine Verwunderung schien ihn zu amüsieren. Mich amüsiert hingegen sein schön klingendes Hocharabisch, bei welchem ich jedoch auch ein paar grammatikalische Fehler entdecke. Vor allem die Bildung des Plurals ist im Arabischen manchmal etwas schwierig.

„Wie alt bist du eigentlich?“

„Ich bin 98 geboren.“, sagt er und grinst mich an, als würde er meine nächste Reaktion antizipieren. Ich rechne nach und sage erstaunt: „Du bist erst 17?“

„So ist es.“

„Und du hast bereits an der Universität gelehrt?“

„Jawohl.“

„Was hast du gelehrt?“

„Islamische Scharia.“

In dem Moment bemerke ich zwei Krücken neben ihm. Daher frage ich: „Brauchst du einen Arzt?“

„Ich würde gerne einen Arzt sehen, ja.“

„Was ist mit dir passiert?“

„Ich wurde in Libyen geschlagen.“

„Von wem?“

„Von Libyern. Wir sind aus Libyen mit einem Boot ins Meer gestochen, doch das Boot kenterte. Viele meiner Brüder sind ertrunken. Ich wurde aufgefangen. Sie hielten uns fest. Sie schlugen mich.“ Während er das erzählt, tut er so, als würde er einen Stock in der Hand halten. Er simuliert Schläge auf seine Oberschenkel und Knöchel. Diesmal war sein Lächeln verschwunden.

„Warum bist du eigentlich aus Somalia geflohen?“

„Alle bekriegen sich. Jeder gegen jeden. Überall werden Menschen getötet.“

„Wie lange hast du von Somalia bis nach Libyen gebraucht?“

„Sechs Monate.“

„Warum so lange?“

„Ich hatte kein Geld mehr und saß mehrere Monate fest.“

„Und wie bist du dann weiter gekommen? Konntest du arbeiten und Geld sammeln?“

„Nein, meine Mutter hat es mir geschickt. Sie lebt in den USA. In Miniapolis.“

„Ich verstehe. Was hat dich der Weg von Somalia nach Libyen gekostet?“

„4700 Dollar.“

„Und dann bist du in Italien angekommen?“

„Ja“

„Haben sie dich dort kontrolliert oder registriert?“

„Nein, es hat niemanden interessiert.“

„Willst du in Deutschland bleiben oder willst du weiter in die USA zu deiner Mutter?“

Er lacht und sagt: „Ich würde gerne in die USA, aber das ist sehr schwierig. Ich werde wohl hier bleiben.“

„Was willst du hier machen?“

„Ich würde gerne studieren.“

Begegnung 2

Ich stehe am Empfangstresen und unterhalte mich mit zwei Helfern. Drei junge Somalier kommen zu mir. Der eine Somalier spricht Arabisch und übersetzt für die beiden anderen.

„Diese beiden sind in einem Raum und würden gerne in einen anderen Raum.“

„Warum?“, frage ich ihn.

„Sie waren zuerst alleine in einem Raum und jetzt wurde eine Afghanische Familie zu ihnen verlegt. Sie würden lieber mit anderen somalischen Jugendlichen in einen Raum.“

Nach Rücksprache mit den Helfern, die für die Raumzuweisung zuständig sind, erkläre ich den beiden, dass sie in einen anderen Raum kommen. Zunächst sind sie erleichtert. Als sie dann jedoch erfahren, in welchem Raum sie sollen, sagen sie: „Nein, bitte nicht dorthin. Dort sind nur Senegalesen. Und da ist ein Verrückter drin, der uns Angst macht.“

„Das kann nicht sein. Im System steht, dass das alles Somalier sind.“, sagt die Helferin. Ich gehe mit den drei Somaliern zu dem Raum, um nachzusehen. Dort angekommen, finden wir ein fast leeres Zimmer vor. Bis auf einem Bett. In diesem Bett schläft eine Person, die die Decke bis über den Kopf gezogen hat.

„Seid ihr sicher, dass das hier keine Somalier sind?“, frage ich erneut.

„Ja ganz sicher.“, antworten sie flüsternd.

Ich gehe zu dem Schlafenden und strecke die Hand aus, um ihn zu wecken. In dem Moment winken die Somalier mir panisch zu und flüstern mit erschrockener Miene: „Nein, bloß nicht wecken! Das ist der Verrückte.“

Ich gehe mit den Dreien aus dem Zimmer und sage: „Geht vor zum Empfang. Ich regel das hier alleine.“ Ich gehe zurück in das Zimmer und wecke den Schlafenden. Dieser dreht sich um und zieht verschlafen die Decke vom Kopf. Als ich sein Gesicht sehe, erkenne ich sofort den Malier, mit dem ich am Tag zuvor eine Auseinandersetzung hatte (siehe Tag 26 – Begegnung 5). An dem Tag erschien mir sein Verhalten schon recht auffällig, denn er wollte absolut nicht, dass mit Syrern Arabisch gesprochen wird. Ich frage ihn: „Entschuldige, dass ich dich geweckt habe, aber kannst du mir bitte sagen, wer hier in dem Raum ist? Sind hier auch Somalier?“

Verschlafen antwortet er: „Nein, hier sind nur Malier und auf dem Bett dort ist ein Senegalese.“

Ich gehe zurück zum Empfang. Dort warten die drei Somalier. Sie kommen aufgeregt auf mich zu und sagen: „Wir können wirklich nicht in diesem Raum bleiben. Er hat uns schon im vorherigen Camp getriezt. Mir hat er sogar einmal eine Flasche an den Kopf geschmissen. Wir haben Angst, dass er uns schlägt, während wir schlafen.“

Ich gehe erneut zu den Helfern, die für die Raumzuweisung zuständig sind und erkläre die Situation. Sie entscheiden, die Somalier erneut in einen anderen Raum zu verlegen.

„So, ihr kommt jetzt mit euren Freunden in einen neuen Raum.“, sage ich den Somaliern. Dann führe ich fort: „Und sollte euch dieser Malier oder irgendein anderer hier im Camp triezen oder sich daneben benehmen, dann geht zu einem Helfer und meldet es. Wir werden so etwas in diesem Camp nicht dulden.“

Die drei bedanken sich. Als sie gehen, sind sie sichtlich erleichtert.

Begegnung 3

Der Somalier, der für die anderen beiden übersetzt hatte, sprach nicht wie die meisten Somalier hocharabisch, sondern zu meiner Überraschung mit einem richtigen syrischen Dialekt. Ich gehe zu ihm und frage: „Du hörst dich nicht wie die anderen Somalier an. Wie kommt es, dass du den syrischen Dialekt sprichst?“

„Ich habe 15 Jahre in Syrien gelebt und dort mein Abitur gemacht.“

„Heißt das, du kommst jetzt auch aus Syrien?“

„Ja, ich bin von dort geflohen. Auf dem gleichen Weg, wie die Syrer.“, sagt er.

„Bist du über den Libanon oder über die Türkei gekommen?“

„Als Somalier blieb mir nur der illegale Weg über die Türkei.“

„Wie lange warst du unterwegs?“

„Ungefähr 20 Tage. Normalerweise gehen die Leute von Damaskus nach Homs und dort aus mit Schleppern nach Afrin. Ich habe mich jedoch von Damaskus auf eigene Faust bis nach Afrin durchgeschlagen.“

Begegnung 4

Ein Mann kommt zum Empfangstresen und verlangt auf schlechtem Englisch, in einen anderen Raum verlegt zu werden.

„Ich kann nicht mit Pakistanern in einem Raum bleiben.“

„Warum das?“

„Ich bin aus Baluchistan. Ich kann mit jeder anderen Nation, aber ich kann nicht mit Pakistanern in einem Raum bleiben.“

Die Helfer versuchen den Grund für seine Ablehnung herauszufinden, doch er nennt keinen. Schließlich sagt er: „Wenn ich in diesem Raum bleiben muss, dann werde ich das Camp verlassen.“ Sein Ton war nicht fordernd, sondern eher zittrig. Er schien den Tränen nahe. Ich nahm ihn zur Seite und sage ihm: „Hör zu. Du musst uns helfen. Ich kenne Baluchistan nicht. Um ehrlich zu sein ist es das erste Mal, dass ich davon höre. Erkläre mir, was zwischen euch und den Pakistanern ist. Dann können wir auch eine Lösung finden.“

Er zögert und sagt dann: „Sie entführen meine Leute und töten mein Volk.“ Dann holt er sein Handy aus seiner Tasche und zeigt mir Bilder von Frauen, die vor dutzenden, an einer Mauer hängenden Fotos eine Mahnwache halten. Er sagt: „Die Menschen auf diesen Fotos wurden alle aus meinem Land entführt. Das ist eine bekannte Aktivistin, die in London lebt. Ich kann nicht mit Pakistanern in einem Raum schlafen. Diese hier haben mir zwar nichts getan, aber ich kann einfach nicht.“

Ich gehe mit ihm zu den Helfern zurück und erkläre seine Gründe. Er wird in einen Raum mit Afghanen verlegt.

Später am Abend suche ich online nach Baluchistan. Ich entdeckte einen weiteren Konflikt, dessen Ursprünge in der willkürlichen Grenzziehung der Briten während der Kolonialzeit liegen, angeheizt durch das Streben nach Unabhängigkeit und das Vorkommen von Erdreichtümern.

Begegnung 5

Ein iranischer Helfer kommt zu mir und sagt: „Hey, du wolltest doch mal mit einen Afghanen reden. Ich habe hier einen, der dir seine Geschichte erzählen möchte.“

Da viele Afghanen genau wie die Iraner Farsi sprechen, übersetzt der Helfer meine Fragen und die Antworten des Afghanen.

„Wo kommst du her?“, frage ich.

„Aus Daikundi.“

„Kannst du mir den Namen aufschreiben?“, frage ich, da ich den Namen noch nie gehört habe. Später erfahre ich online, dass Daikundi ziemlich genau in der Mitte Afghanistans liegt.

„Ich kann weder lesen noch schreiben.“, antwortet er.

„Wie alt bist du?“

„34 Jahre“. Sein Alter überrascht mich, denn ich hätte ihn eher auf 45 Jahre geschätzt.

„Bist du alleine unterwegs?“

„Nein, mit mir reisen die Tochter und der Sohn von meinem Bruder. Sie sind 20 und 23 Jahre alt.“

„Du kommst direkt aus Afghanistan hier her?“

„Nein, ich lebe seit ich 11 Jahre alt bin im Iran als Flüchtling. Ich bin damals mit meinem Cousin aus Afghanistan geflohen, als der Krieg ausbrach. Wir dachten zu dieser Zeit, dass meine Eltern gestorben sind. Sechs Jahre später stellte sich jedoch heraus, dass sie noch lebten. Sie folgten uns in den Iran.“

„Wer kämpfte gegen wen?“

„Das weiß ich nicht. Ich war damals ein Kind und habe keine Ahnung.“

„Hast du im Iran in einem Camp gelebt?“

„Nein, ich habe bei meinem Onkel gelebt. Ich habe auf seiner Hühnerfarm gearbeitet.“

„Warum bist du aus dem Iran geflohen?“

„Im Iran sind wir Afghanen rechtlos. Wir dürfen beispielsweise nicht von einer Region in die andere reisen. Es werden keine Aufenthaltsgenehmigungen mehr für Flüchtlinge und deren Angehörige ausgestellt. Selbst nicht für die Kinder, die auf iranischem Boden geboren werden. Diese Kinder dürfen deshalb dann auch nicht in die Schule. Auch sonst wurden wir dort schlecht behandelt. Wenn jemand ein bisschen Alkohol getrunken hat, wurde er geschlagen. Wenn die Haare zu lang waren wurden sie geschoren.“

„Warum bist du nicht zurück nach Afghanistan gegangen?“

„Dort herrscht doch immer noch Krieg.“

„Wie lange warst du unterwegs?“

„Vier Monate. Davon war ich zwei Monate und zehn Tage in der Türkei eingesperrt.“

„In einem Flüchtlingscamp?“

„Nein, das war ein Gefängnis. Sowas wie Guantanamo. Da waren auch Daesch (IS) Kämpfer. Nur wurden diese besser behandelt als wir.“

„Inwiefern?“, frage ich.

„Sie hatten dort das Sagen. Sie haben uns das Fernsehen verboten und uns gezwungen zu beten. Wenn wir uns über die Zustände bei den Wächtern beschwert haben, kamen wir in Isolationshaft. Einmal reichte mir ein Schäfer eine Zigarette durch den Zaun. Dafür kam ich drei Tage in Isolationshaft. Und die Zigarette durfte ich nichtmal zu Ende rauchen.“

„Warum haben sie dich dann gehen lassen?“

„UN-Beamte haben das Camp besucht und sind auf unsere Situation aufmerksam geworden. Am nächsten Tag haben wir ein Schreiben bekommen, dass wir das Land innerhalb von 20 Tagen verlassen müssen. Sie nahmen uns einen Großteil unseres Geldes ab. Von meinen ursprünglichen Geld von 3.000 Euro blieben mir lediglich 750 Euro.“

„Wie war es dann in Europa?“

„In Europa wurden wir gut behandelt. Die Griechen waren sehr nett zu uns. Seit ich in Europa bin, habe ich das erste Mal in meinem Leben das Gefühl, ein Mensch zu sein.“

2 Gedanken zu „Tag 27: Dornach“

  1. Die Situation von den Afghanen im Iran kann ich bestätigen. Ich betreue eine afghanische Familie seit einem Jahr… zuvor haben sie 5 Jahre im Iran gelebt… und weil sie keine Rechte dort haben, sind sie geflohen. Sie wollten ihren Kindern die Möglichkeit auf Bildung geben.

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    • Danke Claudia für die Info. Leider wissen wir zu wenig über die Afghanen, die zu uns kommen. Es ist das erste mal dass ich mit einer solchen Familie rede. Ich werde in Zukunft versuchen weitere Gespräche in die Richtung zu führen. Die Beweggründe deren Flucht bleiben leider allzu oft verborgen. Zumindest geht es mir so.

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