Tag 36: Dornach – Abgründe

Sonntag, der 21.02.2016

Ich hatte Sonntagnachmittag ein bisschen Zeit und machte mich daher auf den Weg nach Dornach. Mittlerweile leert sich das Camp wieder. Ca. 200 Einwohner wurden bereits auf verschiedene Unterkünfte verteilt. Ich erfahre aus Gesprächen mit verschiedenen Flüchtlingen, dass die Verteilung sehr willkürlich erfolgt. So wurden beispielsweise Familien in Traglufthallten oder Zelte verlegt, während junge Männer in Wohnungen gebracht wurden. Einige Flüchtlinge, die bereits verlegt wurden, kommen tagsüber immer wieder nach Dornach, weil sie die Stimmung dort vermissen.

Als ich ankomme, ist nicht viel zu tun. Daher unterhalte ich mich mit anderen Helfern. Sie reden darüber, dass ein Kind ein Spielgewehr hatte und waren der Meinung, dass es in einem Camp voller Kriegsflüchtlinge nicht angebracht ist. Wir stellen Vermutungen auf, wie Kinder die erlebten Kriegssituationen verarbeiten. Ich frage zwei Syrer, die neben uns standen, was deren Meinung zu dem Thema ist, worauf einer der beiden antwortet:

„Ich bin zunächst von Syrien nach Ägypten geflohen. Ich habe dort in der Nähe von einer Militärakademie gewohnt. Anfangs, wenn ich ein Flugzeug hörte, das zu Übungszwecken abhob, versteckte ich mich vor Angst jedes Mal unter einem Tisch.“

„Denkst du, dass die Kinder ähnlich reagieren oder stecken sie das besser weg? Kann es vielleicht sein, dass sie noch nicht richtig realisieren können, was da vor sich geht?“, frage ich ihn.

„Wenn Kinder in Syrien einen Knall hören, dann wissen sie sofort, durch was für eine Waffe er ausgelöst wurde. Sie erkennen am Geräusch, ob es sich um eine Kalaschnikow, eine Mörser-Granate, ein MiG Flugzeug oder gar um eine Fassbomben handelt. Sie verstehen genau, was gerade passiert und tragen – wie wir Erwachsene – psychische Schäden davon.“ Während redet, knotet er an einem Loom-Gummiarmband – eine Beschäftigung für Kinder, der auch junge Männer in der Unterkunft verfallen sind.

Später kommt eine Helferin zu mir und bittet mich, mit einer Afrikanerin aus Uganda zu reden; in der Hoffnung, dass sie eventuell über meinen Blog Hilfe finden könnte. Auch wenn ich diesbezüglich skeptisch bin und meine Skepsis auch deutlich äußere, so setze ich mich fast drei Stunden mit ihr zusammen und höre zu, wie sie mir auf Englisch mit einem starken afrikanischem Akzent ihre Geschichte erzählt:

Menschliche Abgründe

„Ich bin 33 Jahre alt und komme aus Fort Portal, einer Stadt im Königreich Toro in Uganda. Ich habe meine Mutter nie kennengelernt; sie hat meinen Vater sehr früh verlassen. Mein Vater nahm sich eine Frau, die selbst auch eine Tochter in meinem Alter hatte. Seit meiner Kindheit wurde ich von meinem Vater und seiner Frau misshandelt und geschlagen. Einmal schlug mich mein Vater ins Gesicht und stach mir dabei das rechte Auge aus. Ich verbrachte daraufhin zwei Monate im Krankenhaus und bin seitdem auf einem Auge blind. Meine Stiefmutter biss mich oft. Ich habe heute große Bissspuren auf der Brust und an den Armen. Eines Tages – ich war gerade mal acht Jahre alt – erwischte meine Stiefmutter mich und meine Stiefschwester dabei, wie wir Zärtlichkeiten austauschten. Wir waren Kinder und wussten nicht, was wir taten. Homosexualität ist in Uganda ein großes Tabu. Sie biss mich. Als mein Vater heimkam, schlug er mich so sehr, dass ich Platzwunden am Kopf und überall Blutergüsse hatte. An diesem Tag floh ich von Zuhause und ging nach Kampala, die Hauptstadt von Uganda. Ich lebte ab diesem Tag mehrere Jahre als Straßenkind. Mein Leben bestand darin, zu betteln und aus Mülltonnen zu essen.“

Vermeintlicher Helfer

„Ein Mann, der in der Nähe arbeitete, gab mir ab und zu etwas zu essen und war oft nett zu mir. Eines Tages, – ich war krank – bot er mir an, ein Zimmer für mich zu mieten und für mich zu sorgen. Ich stimmte zu und er brachte mich in eine Ein-Zimmer-Wohnung. Dort schloss er mich ein. Er schlug und vergewaltigte mich immer und immer wieder; meistens war er dabei betrunken. Ich akzeptierte meine Situation und wusste dabei nicht, was mit mir geschah. Ich war damals 14 Jahre alt, er war über 40. Irgendwann wurde ich schwanger. Anfangs wusste ich nicht einmal, warum mein Bauch dick wurde. Nach dem ersten Kind bekam ich das zweite und daraufhin das dritte. Das Leben mit ihm war die Hölle. Er trank viel und war sehr gewalttätig. Einmal als ich schwanger war, trat er mich so stark, dass meine Gebärmutter sich löste und ich drei Monate im Krankenhaus verbrachte. In Uganda bringt es auch nichts, zur Polizei zu gehen. Die Beamten dort arbeiten meist sowieso nicht.“

Die Affäre

„Als ich 17 Jahre alt war, kam mich meine Stiefschwester besuchen und wir gingen erneut eine Beziehung ein. Wir trafen uns ab diesem Zeitpunkt ein bis zwei Mal die Woche. Da der Vater meiner Kinder nicht bei mir wohnte, war das über lange Zeit auch kein Problem.

Doch dann kam er eines Tages überraschend nach Hause und unsere homosexuelle Affäre flog auf. Er schlug auf mich ein, ging auf die Straße und verbreitete den Skandal unter den Nachbarn. Diese stürmten herbei, schlugen mich und drohten, mich zu lynchen. Mit letzter Kraft gelang es mir, zu entkommen. Ich rannte über eine Stunde vor dem aufgebrachten Mob davon. Schließlich ging ich zu einer alten Frau im Stadtteil Wandegaya. Ich kannte sie, da sie uns Straßenkindern oft geholfen hat.“

Die Flucht

„Sie versteckte mich zwei Wochen lang bei sich zu Hause und versprach, mir zu helfen. Sie begleitete mich bei Behördengängen und ich unterschrieb einige Unterlagen. Eines Tages kam sie mit einem indischen Mann zu mir und sagte: „Dieser Mann wird dich von hier wegbringen. Er kann dir helfen. Halt dich an ihn.“ Ich wusste nicht, was mich erwartete, jedoch vertraute ich ihren Worten. Er fuhr mit mir zum Entebbe Flughafen nahe Kampala. Von dort aus flogen wir nach Belgien.“

Belgien

„Als wir in Belgien ankamen, wussten ich weder wo ich war, noch was ich dort sollte. Der Inder, der mich begleitet hatte, sagte lediglich zu mir: „Hier werden sie dir helfen.“. Daraufhin verschwand er und lies mich alleine zurück. Ich wartete einen Tag lang auf ihn am Flughafen in Brüssel, danach ging ich zur Polizei. Sie empfahlen mir, einen Asylantrag zu stellen, was ich daraufhin auch tat.

Ich verbrachte 9 oder 10 Monate in einem Camp. Jedoch wurde dann mein Asylantrag abgelehnt und ich tauchte unter. Mit 30 Jahren wurde ich erneut zum Straßenkind; diesmal jedoch in Europa.

Auf der Straße verfiel ich dem Alkohol. Ich lernte Freundinnen kennen, mit denen ich ab und zu ausging. Einmal gaben zwei Marokkaner Drogen in mein Getränk, nahmen mich mit und vergewaltigten mich. Ein andermal schlug ich mich ein Afrikaner zusammen, weil ich seine Avancen zurückwies.

Ende 2015 saß ich eines Tages auf der Straße und habe geweint. Ich hatte mein Handy verloren und daher keine Möglichkeit, meine Kinder zu kontaktieren. Zudem war ich krank, fiebrig und deprimiert; ich wusste nicht, wie mein Leben weiter gehen sollte. Ein weißer Mann setzte sich zu mir und wir tranken zusammen. Er sagte, dass in Deutschland Flüchtlinge besser behandelt werden und empfahl mir, nach Deutschland zu gehen. Da ich mir die Reise nicht leisten konnte, bot er mir an, das Ticket zu kaufen, wenn ich für ihn ein paar Sachen erledigen würde. Wobei genau ich ihm helfen sollte, sagte er mir aber nicht.

Ich begleitete ihn Nachhause. Als wir in seine Wohnung kamen, schloss er die Tür hinter und rauchte einen Joint. Daraufhin schlug und vergewaltigte er mich. Er hielt mich zwei Tage lang bei sich gefangen. In dieser Zeit hat er mich zwei Mal vergewaltigt und immer wieder geschlagen. Am dritten Tag kaufte er mir ein Zugticket nach München und ließ mich gehen.

Ich stieg in den Zug und fuhr von Brüssel nach München. Als ich hier ankam, war ich noch immer von den Misshandlungen der letzten Tage gezeichnet.

Kurz nach meiner Ankunft in München wurde ich in diese Unterkunft verlegt. Anfangs wurde ich in ein Zimmer mit mehreren nigerianischen Frauen untergebracht. Dort war es jedoch immer sehr unruhig und es gab oft Auseinandersetzungen mit den anderen Frauen. Ich hatte immer mehr Panikattacken und wurde deshalb mehrmals ins Krankenhaus eingeliefert.“

Angst

„Meine Angstanfälle begannen, als eine Freundin aus Uganda, die in Brüssel lebt, für zwei Wochen nach Uganda reiste, um ihre Familie zu besuchen. Ich bat sie, nach meinen Kindern zu schauen und einen Weg zu finden, wie ich mit ihnen reden kann. Als sie wieder kam, erfuhr ich, dass der Vater meiner Kinder in einem Krankenhaus im Sterben lag. Der Alkohol hat seine Leber und Nieren schwer beschädigt. Ein paar Tage nachdem er dann schließlich gestorben ist, ist auch mein ehemaliger Nachbar, der ab und zu nach meinen Kindern geschaut hat, gestorben.

Ich mache mir nun große Sorgen um meine Kinder. Sie haben niemanden mehr dort. Niemanden, der sie versorgt, niemanden, der die Schulgebühren übernimmt und niemanden, der die Miete der Wohnung bezahlen wird. Bald werden sie zu Straßenkindern, wie ich es einst war.“

Während sie mir ihre Geschichte erzählt, zeigt sie mir ihre Bisswunden, die ihr ihre Stiefmutter zugeführt hat. Ich sah ihr beschädigtes Auge. Sie zeigte mir Bilder von ihren Kindern und von dessen toten Vater. Ich sah ein Bild von ihrem geschwollenen Gesicht, als sie in München ankam und ein weiteres von ihrem Vater und Stiefmutter als sie ein Kind war.

„Warum bewahrst du ein Bild deines Vaters auf, wo er doch so gemein zu dir war?“, frage ich sie.

„Ich bin von zu Hause weg als ich acht Jahre alt war. Ich dachte, irgendwann, wenn es mir gut geht, gehe ich vielleicht zurück, um ihn zur Rede zu stellen. Jetzt ist er aber tot.“

„Was erhoffst du dir hier in Deutschland?“

„Ich hoffe, man hilft mir hier, meine Kinder zu bekommen. Ich möchte einmal in meinem Leben glücklich sein. Ich war nie glücklich in meinem Leben.“

„Könntest du nicht jetzt, wo der Vater deiner Kinder tot ist, zurück nach Uganda gehen und woanders mit deinen Kindern dein Leben aufbauen?“

„Wie soll ich mein Leben dort aufbauen? Sie kennen mich dort und wissen, was ich getan habe. Sie würden mich dafür lynchen. Ich habe kein Geld, keinen Beruf und das Leben ist dort sehr schwierig. Wenn ich zurückgehe, bleibt mir nichts anderes übrig, als irgendwo auf der Straße zu sterben.“

„Bist du dir sicher, dass es dich nicht stört, wenn ich über dein Schicksal schreibe?“, frage ich sie erneut.

„Nein, meine Geschichte ist kein Geheimnis. Ich habe nichts zu verbergen. Ich will nur meine Kinder und ich hoffe, irgendwer kann mir dabei helfen. Und wenn sich niemand findet, dann muss ich wohl damit leben.“

Der Abschied

Ich verabschiede mich von ihr und gehe. Auf den Weg nach draußen treffe ich eine Gruppe Syrer, die Karten spielen. Alle rechnen damit, dass sie nächste Woche in ein anderes Camp kommen und sind deshalb sichtlich betrübt. Wir verabschieden uns voneinander und sie versprechen, mich zum Essen einzuladen; irgendwann, wenn sie ihre eigene Wohnung haben.

Im Auto – auf dem Heimweg – läuft das Radio. Es erklingt ein Lied aus meiner Kindheit, dass ich schon damals mochte, auch wenn ich noch nicht verstand, wovon es handelte. Heute gehen mir die Worte der Cranberries unter die Haut, wenn sie in „Zombie“ singen:

Another mothers breaking
Heart is taking over
When the violence causes silence
We must be mistaken

4 Gedanken zu „Tag 36: Dornach – Abgründe“

  1. Unfassbar, was Menschen ertragen müssen. Und können…!

    Dieser Blog ist für mich ein absoluter Gewinn, weil ich so viel über die Hintergründe lerne. Über die näheren Umstände, unter denen die Menschen sich zur Flucht entschließen und über die Flucht selber.

    Mein Schwiegervater ist selber als Kind vor den Russen über die Ostsee geflohen und kann bis heute nicht gut darüber reden.

    Ich arbeite seit kurzem ehrenamtlich in einer Grundschule und unterstütze dort eine Flüchtlingsklasse beim Deutsch lernen.
    Gerade heute berichtete mir ein siebenjähriges Mädchen sehr anschaulich, warum sie und ihre Schwester mit den Eltern aus Syrien fliehen mussten.
    Frankfurt sei ein guter Ort, strahlte sie dann. Das sei ein Ort, an dem man ankommt. Ankommen sei gut.

    In solchen Momenten möchte ich mich am liebsten in eine Ecke werfen und schreien vor Wut und Trauer über das, was da passiert.
    Aber sie ist angekommen. Und sie darf bleiben, aufwachsen und lernen.

    Und deshalb machen wir weiter.

    Liebe Grüße,
    Bettina

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  2. Ein Fallbeispiel, dass – so bewegend es auch ist – gleichzeitig die Absurdität des zwischenzeitlich zur Nichtigkeit verstümmelten deutschen Asylrechts illustriert.

    Wenn es auch bitter klingt: nichts von dem Leid, das über das Leid der Frau aus Uganda berichtet wurde, stellt nach den Vorstellungen des deutschen Gesetzgebers einen Asylgrund dar. Selbst die Verfolgung durch die Familie wegen der homosexuellen Beziehung war keine staatlicherseits organisierte Verfolgung. Auch der verfolgende Mob, vor dem sie fliehen musste würde nicht anerkannt.

    Ein abschliessendes Urteil, das ihren Asylantrag bestandskräftig ablehnt, würde die endgültige Aushöhlung des deutschen Grundrechts auf Asyl auch entgegen der Genfer Flüchtlinskonvention illustrieren.

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