Tag 39: Idomeni

Mittwoch, der 20.04.2016

In der Früh saß ich im Parkhotel und schrieb an einem Artikel. Ich hörte zwei Helfer, die sich am Nebentisch unterhielten und vernahm, dass beide vor kurzem von der griechischen Polizei festgenommen wurden und ein paar Tage im Gefängnis verbracht haben. Ich fragte den ersten nach dem Grund seiner Festnahme und er sagte ernst: „Sie haben ein handflächengroßes Taschenmesser bei mir gefunden.“. Dann fügte er noch mit verschmitzter Miene hinzu: „und etwas Gras.“. Geholfen hatte er während seines Aufenthalts im Lager für Hilfsgüter.

Ich fragte auch den zweiten Helfer nach dem Grund seiner Festnahme, worauf er antwortete: „Sie haben mich kontrolliert und ich hatte nur einen Personalausweis dabei und keinen Pass. Ich sagte denen, dass ich gar keinen Pass brauche, da ich ja Deutscher bin. Das war denen aber egal. Die steckten mich für drei Tage in Polikastro ins Gefängnis. Sie gaben mir nicht mal was zu essen. Erst dann durfte ich einen Anruf tätigen. Ich rief die deutsche Botschaft an, die dafür sorgte, dass ich entlassen wurde. Ich bin dabei eine Klage vorzubereiten. Das lass ich mir nicht gefallen.“. Ich fragte ihn, wo er als Helfer zum Einsatz kam und er erzählte mir, dass er Rettungssanitäter ist und als solcher im Camp unterwegs war.

Der Kampf

39 Zaun sinnvoll eingesetztMinuten später kam der Rettungssanitäter aufgeregt auf mich zu und fragte, ob ich Verbandsmaterial dabei hätte, weil im Camp angeblich ein Kampf unter Flüchtlingen ausgebrochen sei. In einer etwas größeren Gruppe machten wir uns mit mehreren Autos auf den Weg nach Idomeni.

Dort angekommen suchten wir vergeblich nach Spuren eines Kampfes. Wir fanden weder Verletzte noch jemanden, der uns bestätigen konnte, ob es wirklich einen Vorfall  gab oder ob es sich doch nur um ein Gerücht handelte.

Wir drehten also gemeinsam eine etwas größereRunde und boten hier und da unsere Hilfe an. Es war ein sehr windiger Tag. Die Zelte wurden unter den Windböen hin und her gerüttelt und es sah so aus als würde mindestens die Hälfte gleich davonfliegen.

2016-04-20 12.50.11Unterwegs trafen wir auch eine Gruppe Männer, die versuchten mit einem großen Stein Holz zu zerkleinern, um damit zu kochen oder sich nachts aufzuwärmen. Wir besuchten auch die Zelte, die direkt am Zaun waren, gleich neben einem Tümpel, wo es abends nur so vor Mücken wimmelte. Während andere Helfer Sonnencreme, Sonnencappies und Insektenschutzmittel verteilten, dolmetschte ich für den uns begleitenden Arzt. Es gab einen Verdacht auf Krätze, eine Frau die unter einem Nierenstein litt, Zahnschmerzen und immer wieder Sonnenbrände.

Unsere Runde dauerte etwas länger. Später entschieden wir uns dann erneut zum Camp Eko zu fahren, da eine der Helferinnen für eine Frau dort Kopftücher besorgt hatte und sie ihr bringen wollte.

Begegnung 1: Camp Eko

Dort angekommen lud uns die Familie in ihr Zelt ein und ich unterhielt mich mit dem Vater.

„Weißt du etwas neues, was uns betrifft? Gibt es neue Entscheidungen?“, fragte er mich. Diese Frage wurde mir immer wieder von Flüchtlingen gestellt.

„Nein leider nicht“, sagte ich.

„Wir haben hier gehört, dass in Idomeni nachts fünf Stunden lang die Grenze geöffnet wurde. Stimmt das?“

„Nein, davon habe ich nichts gehört und es steht davon auch nichts in den Medien. Um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass die Grenzen geöffnet werden. Ich denke, dass sie es aussitzen wollen bis ihr aufgebt und in Camps geht.“

Er schien nicht überrascht zu sein, seine Niedergeschlagenheit war jedoch offensichtlich.

„Wir wissen nicht, wie es weiter gehen soll. Viele bezahlen Schlepper und reisen so weiter.“

„Sie bezahlen Schlepper? Wie bringen die Schlepper sie weiter?“

„Meistens in Autos, es gibt aber auch welche, die mit gefälschten Pässen in den Flieger steigen. Wir sind aber mit sechs Kindern unterwegs, da ist das schwierig. Wir passen nicht alle in ein Auto und Schleppern will ich meine Kinder nicht anvertrauen. Außerdem kann ich keine 3000 € pro Person aufbringen. Hier in Griechenland gibt es auch keine Zukunft für uns. Hier gibt es nicht mal Sprachunterricht und keine Unterstützung. Griechenland hat sowieso genug Probleme mit sich selbst. Wir sind nicht hergekommen aus Liebe zu Europa. Aber meine Kinder waren seit drei Jahren nicht mehr in einer Schule. Was soll aus ihnen werden?“.

„Warum sind sie so lange nicht mehr in die Schule gegangen?“

„Weil die Schulen gezielt bombardiert werden. Schulen sind gefährlich.“

„Warum? Kann es sein, dass sich Rebellen in den Schulen verschanzen? Oder dort Waffen lagern?“, frage ich.

„Nein, warum sollten sie das tun? Die Rebellen der Freien Syrischen Armee sind doch alle aus der Stadt. Deren Kinder gehen auch in diese Schulen. Das würden die niemals tun. Meistens ziehen sich die Männer in die Berge zurück und starten von dort Angriffe auf das Regime.“

„Warum bombardiert das Regime dann die Schulen?“

„Die Rechnung des Regimes lautet: indem die Familien bombardiert werden, zwinge ich die Männer, den Kampf aufzugeben, damit ihre Familien nicht mehr angegriffen werden.“

„Geht diese Rechnung denn auf?“, frage ich.

„Nein im Gegenteil. Durch die Gräueltaten des Regimes schließen sich immer mehr Männer dem Kampf an. Wenn deine Familie getötet wird, dann hast du nichts mehr zu verlieren und du brauchst einen Sinn im Leben. Anfangs waren sehr viele Friedliche und sie sind höchstens auf die Straße gegangen. Mittlerweile greifen viele von denen zu den Waffen.“

Neben dem Vater sitzen seine zwei jungen schüchternen Töchter und freuen sich über die Kopftücher. Die Familie hat ein großes stabiles Zelt und ist recht gut geschützt vor den starken Windböen, die an diesem Tag mehrere Zelte zerstört haben. Ein Sohn kommt rein. Er ist 7 Jahre alt.

„Unsere Kinder kennen die Namen der Waffen und unterscheiden sie. Wenn sie ein Flugzeug hören, dann erkennen sie ob es eine MIG oder eine Suchoi ist. Es ist doch nicht normal, dass Dreijährige sowas können. Dreijährige sollten überhaupt nicht wissen was Waffen sind, was töten bedeutet. Ich hatte in meiner Jugend nie was mit Waffen zu tun gehabt, bis ich mit 20 meinen Militärdienst angetreten bin.“

Einen Moment war es ruhig. Ich dachte über seine Worte nach. Dann fragte ich: „Was war der Auslöser eurer Flucht?“

„Es wurde immer schlimmer. Die Frau meines Onkels war vor einigen Monaten dabei, mit ihren beiden Schwiegertöchtern im Garten Brot zu backen, als eine Rakete einschlug. Sie tötete alle auf einen Schlag. Von der Mutter blieb nichts übrig bis auf ein paar Fleischfetzen, die an der Backstelle anstelle des Brotes hingen. Mein Onkel ist seitdem querschnittsgelähmt.“

Wieder fiel mir nichts ein, was ich dazu sagen sollte, also schwieg ich bis er weiter sagte:

„Mein Vater hat ein großes Land. Alle seine Söhne haben dort eine Wohnung. Ich hatte eine Wohnung etwas abseits. Einen Monat vor unserer Flucht, schlug eine Rakete der Russen in das Haus meines Vaters ein und alles war in Schutt und Asche. Zum Glück waren in dem Moment alle außer Haus und niemand ist gestorben. Mein Haus blieb verschont und alle zogen bei mir ein.“

Eine weitere Tochter, die gerade mal vier Jahr alt war, hörte uns neugierig zu. Er schaute sie an, lächelte und sagte:

„Als sie geboren wurde, stand die ganze Stadt Idlib in Flammen. Das Militär des Regimes verteilte überall Autoreifen und zündet sie an. Von weitem waren überall die Rauchsäulen zu sehen. Unter diesen Umständen bekam meine Frau Wehen. Ich fuhr sie in die Stadt zu einem Krankenhaus. Um uns herum wüteten heftige Kämpfe. Ich hatte die Angst meines Lebens. Als wir im Krankenhaus angekommen sind, hättest du mir die Venen aufschneiden können, es wär nichts rausgekommen. So extrem war meine Furcht“

Während er sprach, war er ruhig und dennoch spürte ich den Nachhall seiner Angst. Ich fragte mich, wie sich erst die Frauen und Kindern fühlen müssen, wenn schon der Vater solche Angst hatte.

Wir verabschiedeten uns und gingen weiter.

Die kaputten Zelte

Der Arzt, mit dem wir tagsüber unterwegs waren, schickte mir eine Nachricht, in der er sagte, dass ein Helferteam ab 22 Uhr die Zelte austauschen wollte, die tagsüber durch den starken Wind zerstört wurden. Wir trafen uns im Parkhotel und fuhren in einem Autokorso bis zum Camp. Dort teilten wir uns in 5 Teams auf und gingen durch die Reihen auf der Suche nach besonders beschädigten Zelten.

Wir bauten mitten in der Nacht, ausgestattet mit Stirnlampen im Dunkel, mehrere Zelte auf. Das schwierigste dabei war, ständig Menschen zurückweisen zu müssen, denn immer mehr wollten ein neues Zelt, da ihres zerrissen war. Vorgabe war jedoch nur Zelte zu ersetzen, die komplett zerstört waren. Zelte, die noch einigermaßen standen, wurden nicht ersetzt. Das lag auch daran, dass wir nur eine begrenzte Anzahl dabei hatten. Da ich der einzig arabischsprechende Helfer war, wurde ich immer wieder in Diskussionen verwickelt und musste immer wieder unsere Entscheidung rechtfertigen.

Begegnung 2: Die Russen

Als erstes bauten wir ein Zelt für einen Mann um die 35 auf. Ich fragte ihn: „woher kommst du?“

„Aus Maarat Ennoman.“ Es ist die gleiche Stadt, aus der der Junge kam, den ich einen Tag zuvor im Camp an der Eko Tankstelle kennen gelernt habe.

„Sie haben die Stadt gestern bombardiert. 48 Tote und viele verletzte.“ sagte er traurig.

„Ich habe davon gehört. Das ist schrecklich.“

Er holt sein Handy hervor und zeigt mir ein Bild, das schwarzen Rauch über einer Stadt zeigt.

„Weißt du von wem der Angriff kam?“, frage ich.

„Es waren die Russen. Sie bombardieren Krankenhäuser, Wochenmärkte und Schulen. Neulich haben sie sogar einen Tiermarkt bombardiert. Hunderte Tiere sind dabei verendet.“

Begegnung 3: Die Gruppe

Wir gehen weiter und finden eine Gruppe junger Männer, die um ein Lagerfeuer auf großen Eisenbahnschwellen aus Holz, die sie angeschleppt und in einem Viereck angeordnet haben, saßen. Es mussten dort drei Zelte ersetzt werden, zwei Helfer gingen zurück zum Transporter, um die Ersatzzelte zu holen. Die restlichen Helfer und ich setzten uns zu der fröhlichen Gruppe. Wir unterhielten uns ein Weilchen bis es um den angeblichen Kampf am Morgen ging. Ich fragte, ob dieser tatsächlich stattfand.

39 Lagerfeuer„Ja, es kommt hier regelmäßig zu Schlägereien. Meist geht es dabei um banale Sachen. Vor allem das Warten in der Schlange macht die Menschen aggressiv. Es herrscht sowieso eine aggressive Grundstimmung aufgrund der Ungewissheit, was mit uns hier passieren wird.“, sagt einer.

Mehrere aus der Gruppe kommen aus Deir Ezzor. Zwei unter ihnen wollen sich in Deutschland behandeln lassen. Der eine ist am Auge verletzt und hofft, dass ihm eine künstliche Linse eingesetzt werden kann. Der zweite wurde durch eine Bombe des Regimes am Bein verletzt und möchte sich weiter behandeln lassen.

Als die beiden Helfer mit den Zelten zurückkommen bauen wir diese auf und ziehen weiter.

Begegnung 4: Der alte Mann

Irgendwann gegen ein Uhr nachts unterhielt ich mich mit einem älteren Mann. Er sah aus wie 65, war jedoch gerade mal 51 Jahre alt. Er war groß, sein Gesicht zerfurcht, hinkte auf dem rechten Bein und vier seiner vorderen Zähne fehlten.

„Wo kommst du her?“

„Aus Aleppo“

„Warum hast du Syrien verlassen?“

„Syrien ist kein Land mehr zum Leben. Das was ich dort erlebt habe kann man nicht ertragen. Ich will ein Land, in dem ich in Frieden leben kann. Ich bin alt und wer weiß, was mir noch vom Leben bleibt. Ich will das, was mir bleibt, irgendwo verbringen, wo man das Leben respektiert. Ich lag in Syrien drei Tage lang unter unserem Haus, nachdem es von russischen Bombern getroffen wurde. Warum tun sie das? Warum tun sie uns das an. Das war ein Wohnviertel. Drei Tage lang lag ich dort eingeklemmt und bewusstlos. Erst im Krankenhaus kam ich wieder zu mir.“

Ich zeigte auf sein Bein und fragte: „Kommt deine Verletzung am Bein von diesem Angriff?“

„Nein das war ein Scharfschütze. Er traf mich während ich unterwegs war. Ich lag dort mitten auf der Straße. Niemand konnte mir helfen. Ich kroch drei Stunden lang, um aus seiner Schusslinie zu kommen und mich selbst zu retten.“

Er schwieg und schaut ins Leere als würde er das Erlebte in Gedanken erneut durchgehen und sagt dann: „Wir sind hergekommen in der Hoffnung auf ein sicheres Leben; mehr nicht. Jetzt sind wir hier gelandet. Findet eine Lösung für uns. Wir können weder weiter noch zurück. Wir leben hier wie Tiere. Wo sind die Menschenrechte. Wo ist die Menschlichkeit? Sagt Europa nicht immer, dass es für Menschlichkeit steht. Was ist mit uns? Bitte Bruder. Versucht etwas zu bewegen. Versuch deinen Freunden unsere Situation zu erklären und sie zu überzeugen auf die Straße zu gehen, zu demonstrieren oder Sit-ins zu machen. Wir sind müde und verzweifelt, bei Gott, was soll aus uns werden. Und warum all das? Weil wir in Würde leben wollten? Weil wir Reformen wollten? Mehr wollten wir am Anfang nicht. Den Menschen ging es anfangs nur um Arbeit um Gerechtigkeit. Über anderthalb Jahre blieben wir friedlich. Auch ich bin auf die Straße gegangen und habe für die Freiheit gesungen. Doch wir wurden niedergeknüppelt und unterdrückt. Daraufhin griffen dann einige zu den Waffen. Sie sahen keinen anderen Weg mehr. Sie konnten die Unterdrückung nicht mehr akzeptieren. Das ist was ich an der freien Syrischen Armee mag und respektiere. Sie haben das Hemd der Sklaverei von sich geworfen.“

Er sagte das und schaut mir in die Augen mit einem Blick voll Schmerz und Verzweiflung.

„Gibt es auch etwas, das du an der freien Syrischen Armee nicht magst?“, fragte ich.

Er hebt den Blick, kneift die Augen etwas zusammen, überlegt kurz und sagt dann: „Einige haben eine fundamentalistische Einstellung und kontrollieren zum Beispiel, ob du betest und dass du nicht rauchst. Das mag ich nicht. Es sollte jeder frei in seinen Entscheidungen sein.“

„Ich dachte bisher, dass die Freie Syrische Armee keinen religiösen Fokus hat.“

„Die meisten nicht, aber auch dort gibt es verschiedene Gruppierungen und einige sind leider so.“

Inzwischen stand sein Zelt und es war mittlerweile fast zwei Uhr in der Früh. Ich verabschiedete mich und machte mich auf den Weg zurück in meine Unterkunft.

5 Gedanken zu „Tag 39: Idomeni“

  1. Hallo Karim, danke für Deine aufopfernde Arbeit und die laufenden Gespräche, die Du mit uns anderen teilst! Eine Frau aus Idomeni hat eine Kampagne auf change.org gestartet. Es geht darum, dass die flüchtlinge in Idomeni nur selten Kontakt aufnehmen können mit offiziellen Stellen anderer Länder. Für manche Sprachen geht das nur einmal die Woche, 1 Stunde via Skype. Rania Ali, die die Petition gestartet hat, möchte ein persönliches Service vor Ort erwirken. Hier ist die Petition: https://www.change.org/p/dringend-f%C3%BCr-eine-pers%C3%B6nliche-asyl-beratung-f%C3%BCr-fl%C3%BCchtlinge-in-griechenland?utm_source=action_alert&utm_medium=email&utm_campaign=570089&alert_id=MnWQfADQpa_J5Kv%2BfpoqMxKeZDyYjbDeHcbsmeCjTExc2Ap9%2B2rJAPTNZ34co2D5PlgDmDuga0W
    Beste Grüße,

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    • Hallo German May, ja dieser Skype-Asyl-Service ist eine Schande und eine reine Schikane. Ein Syrer sagte mir dort, dass er das gefühl hat, dass das nur ein Witz ist. Ich verstehe auch nicht, wieso Griechenland dort nicht ein Paar Beamte ins Camp schickt, die die Leute registriert.

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  2. Kann man diese Geschichten vielleicht mal an die entsprechenden Politiker weitergeben? Das hat doch alles nichts mehr mit Menschenwürde geschweige denn mit Menschenrechte zu tun. Europa hat den Friedensnobelpreis bekommen – warum handelt dann keiner sondern guckt sich das Elend aus der Ferne an? Das ist für mich alles wirklich unbegreifbar…

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