Tag 44: Der Aufständische – Teil 1

en

Ein Bekannter erzählte mir von einem querschnittsgelähmten Syrer, der in einem Altenheim untergekommen war und wohl etwas Unterstützung benötigt. Mit einem befreundeten Helfer machte ich mich auf dem Weg nach Erding, um ihn zu besuchen und zu schauen, wie wir ihm helfen können. Auch wenn es ihm in dem Altenheim relativ gut zu gehen scheint, so merkte man ihm an, dass er unter der Isolation leidet und sich sehr über unseren Besuch freute. Er erzählte uns vieles über die Umstände, die ihn nach Deutschland brachten und wie es zu seiner Verletzung kam. Wir verweilten länger als zwei Stunden bei ihm und hörten mal gespannt, mal schockiert und meistens erschüttert bei seinen Erzählungen zu. Ich erzählte ihm von meinem Blog und schlug ihm vor, seine Geschichte aufzuschreiben. Er schien sich über die Möglichkeit zu freuen und ich versprach ihm, im Ramadan vorbeizukommen und das Essen mitzubringen.

Am Mittwoch, dem 8. Juni 2016, machte ich mich nach der Arbeit auf den Weg zu ihm. Vorher kaufte ich Datteln, eingelegtes Gemüse, Humus und Baba Ghannouch, um ihm etwas Abwechslung von dem für ihn sonst so ungewohnten, deutschen Essen zu bieten.

Als ich bei ihm ankam, verblieben noch anderthalb Stunden bis zum Fastenbrechen und so fing er auch gleich an, mir seine Geschichte zu erzählen. Es sollte die ausführlichste und schonungsloseste Erzählung über das Leben in Syrien, vor und während der Revolution werden, die ich bis dahin gehört hatte.

***

Im alten Syrien

Ich bin 1983 im Gouvernement von Idlib, in der Stadt Dschisr asch-Schughur geboren. Ich bin der älteste meiner Geschwister und Sohn einer relativ armen Familie. Schon als Kind musste ich für den Unterhalt meiner Familie sorgen und so kam es auch, dass ich mit 14 Jahren in den Libanon reiste, um dort einige Zeit als Müllmann zu arbeiten.

Mit 19 wurde ich zum Militär eingezogen und absolvierte meinen obligatorischen, zweieinhalbjährigen Militärdienst in Damaskus. Da ich der älteste Sohn und Haupternährer war, folgte mir meine Familie und verließ meine Heimatstadt.

Nachdem ich den Militärdienst abgeschlossen hatte, entschloss ich mich, in Damaskus zu bleiben und nahm mir vor, ein kleines Geschäft zu eröffnen. Daher machte ich mich auf die Suche nach einem Laden und wurde in einem Viertel, das überwiegend von syrischen Kurden bewohnt wurde, fündig.

Ich einigte mich mit dem Eigentümer auf einen Preis und wir machten aus, dass ich am nächsten Tag das Geld vorbeibringen und den Vertrag mit seinem Vater unterschreiben würde.

Am nächsten Tag ging ich zum abgemachten Treffpunkt und wartete dort, mit umgerechnet 750 Dollar in der Tasche, auf den Eigentümer. Auf der anderen Straßenseite war eine Moschee und es war gerade Gebetszeit. Als das Gebet beendet wurde, verließen die Menschen die Moschee und verteilten sich in alle Richtungen. Ein etwas älterer Mann kam auf mich zu und sagte: „Folge mir!“

Ich ging davon aus, dass er der Vater war und folgte ihm, ohne mir Gedanken zu machen, vor allem, weil wir auch in Richtung des Ladens gingen. Doch zu meiner Überraschung lief der Mann an dem Laden vorbei. Verwundert fragte ich: „Wohin gehst du? Wollen wir uns nicht den Laden anschauen?“

Der alte Mann sagte nur: „Warte ab und folge mir.“
Da mir nichts anderes übrig blieb, tat ich, was er sagte.

Nach einer Weile erreichten wir eine enge Gasse. Er blieb vor einem Haus stehen und klopfte kräftig an die Tür, die sich kurz darauf öffnete. Eine Frau – etwas jünger, als der Mann – sah hinaus. Neben ihr stand ein Junge, den ich für ihren Sohn hielt.

„Ist er es gewesen?“, fragte er die Frau mit strenger Stimme und zeigte dabei auf mich. Die Frau schwieg.

„Sprich! Ist er es gewesen?“, fragte er erneut, hob diesmal die Stimme, doch die Frau schwieg weiter.

„Sag, dass er es war oder ich verpasse dir und deinem Sohn eine Tracht Prügel, Frau.“, brüllte er sie diesmal an.

„Ja, er war es.“, sagte die Frau weinend und schloss die Tür, ohne ein weiteres Wort zu sagen.

Ich stand wie gelähmt neben dem Mann und verstand nicht, was gerade passierte. Als die Tür ins Schloss fiel, spürte ich einen heftigen Schlag auf meinen Hinterkopf. Bevor ich sehen konnte, woher der Schlag kam, sammelte sich eine Gruppe Männer um mich. Sie schlugen auf mich ein.

Nach einer Weile ließen sie von mir ab und brachten mich zum nächsten Polizeirevier.

„Er ist letzte Nacht bei mir eingebrochen und hat 1.000 Dollar geklaut. Meine Frau hat ihn identifiziert.“, sagte der alte Mann.

Bei seinem Worten verstand ich das Geschehen. Ich war in eine Falle getreten. Es war ein abgekartetes Spiel zwischen dem alten Mann und seinem angeblichen Sohn. Ich sollte den Laden nie bekommen. Sie hatten es nur auf das Geld abgesehen.

Der Polizist durchsuchte mich und fand die 750 Dollar, die ich bei mir trug. Er gab dem alten Mann das Geld und sperrte mich in eine Gefängniszelle.

Folter

Zwei Tage später wurde ich in das Jinayat Gefängnis gebracht. Dieses Gefängnis geht drei Stockwerke unter die Erde. Dort gibt es alle Arten von Folter, wodurch die Insassen zu Geständnissen gezwungen werden sollten. Es war der reinste Horror.

Manchmal zogen sie mich nackt aus, knebelten mich an Armen und Beinen und tauchten mich in eine Wanne, welche mit eiskaltem Wasser gefüllt war. Ein anderes Mal hingen sie mich an den Beinen auf, sodass mein Kopf und meine Schultern noch den Boden berührten. Dann schlugen sie mit einem dicken Stock auf mich ein oder kratzten mit einem Eisenkamm über meine Fußsohlen, bis diese zu bluten anfingen. Ich musste mich in eine halb stehende, halb hockende Position begeben, dann schlugen sie mit einem Stock auf meine Knie ein, bis mich meine Beine nicht mehr halten konnten. Über zwanzig Tage lang unterzogen sie mich dieser Folter, damit ich gestehe, dass ich in das Haus des Mannes eingebrochen war.

Ich gestand nicht und kam am 22. Tag ohne ein Gerichtsverfahren frei. Jedoch musste ich Schmiergeld in der Höhe von umgerechnet 11.000 Dollar bezahlen. Um an das Geld zu kommen, verkaufte mein Vater ein Teil unseres Landes in Dschisr asch-Schughur an einen Cousin.

Schneiderei

In den folgenden Jahren absolvierte ich eine Ausbildung zum Schneider und arbeitete als solcher in Damaskus. Ich schneiderte hauptsächlich Anzüge von A bis Z. Mein Spezialgebiet war jedoch das Bügeln. Bügeln hört sich vielleicht unspektakulär an, ist jedoch in der Anzugschneiderei eine Kunst für sich.

Es war eine gute Zeit und ich verdiente ordentliches Geld. Vor allem im Ramadan lohnte sich die Arbeit besonders. Manchmal arbeitete ich Tag und Nacht und verließ meine Arbeit eine ganze Woche nicht. Während ich in normalen Monaten umgerechnet 900 Dollar verdiente, waren es im Ramadan über 2000 Dollar.

Doch die Zeiten änderten sich, als der Irakkrieg einbrach und viele Iraker nach Syrien flüchteten. Sie boten ihre Arbeitskraft zu niedrigen Preisen an und da sie keine Rechte hatten, wurden sie ausgebeutet. Diese Ausbeute traf uns Syrer gleichermaßen, da dadurch die Löhne immer weiter fielen.

Während ein Syrer acht Stunden arbeitete, arbeitete der Iraker zwölf und verdiente dennoch ein Drittel weniger, obwohl er qualitativ gleichwertige Arbeit ablieferte.

Irgendwann lohnte sich die Schneiderei nicht mehr und ich beschloss im Jahr 2005 mit meiner Familie nach Dschisr asch-Schughur zurückzukehren.

Das Projekt

In Dschisr asch-Schughur hatten wir ein Stück Land. Ich fing an, es zu bewirtschaften. Ich pflanzte Gemüse und kümmerte mich um die paar Olivenbäume, die darauf wuchsen. Zu dieser Zeit gab es ein Förderprogramm der Regierung, um das Unternehmertum zu begünstigen. Nach langer Überlegung nahm ich mir vor, eine kleine Milchwirtschaft aufzubauen. Ich bewarb mich für das mittlere Förderprogramm, das aus einem Kredit in drei Teilen über umgerechnet 60.000 Dollar bestand.

Um das Geld zu erhalten, reichte ich einen Antrag ein, der in erster Instanz akzeptiert wurde. Daraufhin schickten sie mir vier Gutachter, die prüfen sollten, ob das Land für mein Projekt geeignet ist. Nachdem sie alles gesehen hatten, sagten sie mir wörtlich: „Besteche uns und dein Antrag wird bestätigt, ansonsten kannst du das Projekt vergessen.“

Die Zustimmung dieser Gutachter hat mich umgerechnet 1.000 Dollar gekostet und mir wurden umgerechnet 22.000 Dollar versprochen. Ich begann mit dem Bau und ließ die Fundamente gießen. Doch plötzlich kam eine weitere Gutachtergruppe, die meinen Antrag ablehnte. Nach langen Verhandlungen musste ich auch diese Gruppe bestechen. Sie gaben sich mit 2.500 Dollar zufrieden und genehmigten meinen Antrag. Mit der Genehmigung ging ich zum Schatzmeister, der das Geld auszahlen sollte. Dieser behielt dann nochmal 15% der Summe als Schmiergeld für sich.

Gutachter und Schatzmeister sind eigentlich Beamte, denen steht eigentlich nichts dergleichen zu. Sie erhalten auch keine Provision oder ähnliches. Aber das ist unser Land. Sie bedienen sich, wie sie wollen und nehmen das Volk aus, während das Regime die Augen verschließt.

Schlussendlich habe ich insgesamt 40% der Kreditsumme bereits im Voraus für Bestechungen verloren.

Ich ließ also die Stützen gießen und die die Decke schütten. Und wieder wurden mir Gutachter geschickt, die den Verlauf des Projektes beurteilen sollten, bevor ich den zweiten Teil des Kredites erhalten sollte. Diesmal war es eine Gruppe von neun Männern. Nachdem sie sich alles angesehen hatten, verlangten sie von mir, dass ich sie in ein Restaurant einlade. Das Festmahl kostete mich 1.000 Dollar. Zusätzlich sollte ich jeden mit 1000 Dollar bestechen. Diesmal zahlte ich nicht. Ich sagte ihnen, dass ich mich bei ihnen melden werde und ging nach Hause, um alles durchzurechnen. Ich stellte fest, dass das ganze Projekt nicht mehr zu stemmen war und dass ich mich mit jedem Tag weiter verschuldete. Also ließ ich alles fallen und suchte mir einen anderen Weg, um meine Familie zu ernähren und um meine entstandenen Schulden zurückzuzahlen.

Ich hatte Verwandte, die in der Türkei nahe der syrischen Grenze wohnten. Ich kaufte Kühe und Tiere in Syrien und schmuggelte sie über die Grenze in die Türkei, wo meine Verwandten sie verkauften. Aus der Türkei brachte ich meistens Zigaretten zurück nach Syrien. Ich wurde zum Schmuggler und blieb es für ganze fünf Jahre. In dieser Zeit verdiente ich gut. Ich konnte meine Schulden zurückzahlen, habe geheiratet und plante, ein Auto zu kaufen, um als Taxifahrer zu arbeiten. Doch dann gingen Ereignisse los…

Die Anfänge

Anfang 2011 erreichten uns Berichte über Kinder, die von den Revolutionen in Tunesien und Ägypten inspiriert, folgendes an die Schulwand schrieben: „Das Regime muss fallen.“

Die Kinder wussten natürlich nicht, was dieser Satz bedeutet und was er für Folgen haben kann. Man hätte das Ganze einfach ignorieren können, aber die Kinder wurden festgenommen. Sie blieben mehrere Tage in Gewahrsam und wurden mit ausgerissenen Fingernägeln und in einem entsetzlichen Zustand entlassen. Eines der Kinder wurde seinen Eltern als lebloser Körper übergeben.

Der Anblick hat mich innerlich zerrissen. Es war unerträglich.

Wochen später erreichte uns ein zweiter, schlimmer Bericht aus der Baniyas. Dort ging eine Gruppe von ungefähr 50 Frauen und Kindern an einer Straßensperre vorbei, als Mitglieder des Sicherheitsapparats das Feuer auf sie eröffneten. Nur eine einzige Frau überlebte das Massaker schwerverletzt. Diesmal sagte ich zu meinem Vater: „Ich werde mir eine Waffe zulegen und sie verstecken. Wer weiß, was bei uns passieren wird. Wir müssen uns verteidigen können.“ Und auch wenn mein Vater dagegen war, nahm ich mir fest vor, ein Gewehr zu kaufen. Bevor es jedoch dazu kam, vergangen noch mehrere Wochen.

Zu dieser Zeit gingen immer mehr junge Männer in Dschisr asch-Schughur auf die Straße und demonstrierten. Sie verlangten Arbeitsmöglichkeiten und dass der Gouverneur abgesetzt wird. Niemand verlangte den Sturz des Regimes oder gar das Absetzen von Bashar Al-Assad. Die Demos wurden immer wieder von den Sicherheitsleuten und den Schlägertrupps des Regimes, den sogenannten Shabiha, angegriffen. Die Zahl der Demonstranten stieg jedoch täglich. Irgendwann fing auch ich an, mich regelmäßig an den Demos zu beteiligen. Unter der Woche gab es jeden Abend eine Demo und am Freitag nach dem Freitagsgebet.

Die Demonstranten wurden immer wieder angegriffen und auch nach den Demos wurden einzelne Teilnehmer abgefangen und ins Gefängnis gesteckt. Über den Verbleib von einigen weiß man bis heute nichts.

Wir errichteten Straßensperren und bewachten diese überwiegend nachts, um die Schlägertrupps von unseren Häusern und Familien fernzuhalten. Viele der jungen Männer waren an den Sperren mit Jagdgewehren bewaffnet.

Bericht aus Baniyas

Zu dieser Zeit ging ich in der Nacht noch meiner Tätigkeit als Schmuggler nach. Ein Mann kam zu mir. Er wollte die Grenze mit seiner Familie illegal überqueren und Syrien so schnell wie möglich verlassen. Ich versprach ihm, ihn bei seinem Vorhaben zu helfen und bat ihn, sich bereit zu halten. Bevor wir uns trennten, nahm er mich zur Seite und bat mich: „Bruder, ich möchte dir meine Situation erklären, damit du verstehst, was mich treibt. Als bei uns in Baniyas die Demos losgingen, wurde ich festgenommen. Sie hielten mich mehrere Monate fest und folterten mich. Dann kam ein Gefängnisoffizier zu meiner Frau und sagte ihr, wenn sie mich je wieder sehen wolle, dann solle sie mich mit unseren drei Töchtern abholen. Ihr war natürlich klar, was er wollte, also zögerte sie mehrere Wochen. Dann, als sie jegliche Hoffnung verloren hatte und verzweifelt war, beugte sie sich seinem Willen. Sie hingen mich in ein Zimmer an den Armen auf und brachten meine Frau und meine Töchter in den Raum. Dort wurden sie vor meinen Augen und von mehreren Gefängniswärtern vergewaltigt. Danach entließen sie mich. Und sobald es uns möglich war, begaben wir uns auf die Flucht. Bruder, bitte, habe Erbarmen mit uns. Wir müssen hier raus.“ Sein Bericht erschütterte mich zutiefst. Seine Töchter schienen traumatisiert und abwesend. Die jüngste war elf Jahre alt.

Al-Mastouma

Ein paar Tage später, als wir auf einer Demo waren, kamen ein paar Männer und berichteten, dass das Dorf Al-Mastouma vom Regime belagert und willkürlich beschossen wurde, um drei Männer dazu zu zwingen, sich zu ergeben. Wir entschieden uns, einzugreifen. Jeder, der eine Waffe hatte, nahm diese mit und wir machten uns auf den Weg, um von dem Dorf abzulenken und die Belagerung zu stören. Wir waren eine sehr große Gruppe. Nur die wenigsten besaßen bereits eine Waffe und meistens handelte es sich dabei um Jagdgewehre. Wir gingen also los und hatten keine Ahnung, was uns dort erwartete.

Als wir uns dem Dorf näherten, hörten wir noch die Explosionen der Artillerie. Dann sahen wir ca. 30 Pkws mit hoher Geschwindigkeit auf uns zufahren. Wir vermuteten, dass es bewaffnete Shabiha waren, die uns angreifen wollen. Daher verteilten wir uns in den Olivenhainen, die den Straßenrand säumten und warteten, bis sich die Fahrzeuge näherten. Wir wollten kein einfaches Ziel für sie sein.

Jedoch bestätigte sich unsere Vermutung nicht. In den Fahrzeugen waren keine bewaffneten Regimeanhänger, sondern jeweils zwei oder drei schwerverletzte Bewohner des Dorfes. Einige lagen im Sterben. Wir erkundigten uns bei ihnen über das Geschehen im Dorf. Sie berichteten uns, dass nachdem sich die drei Männer dem Regime ergeben hatten, die Mitglieder des Sicherheitsapparats trotzdem das Dorf gestürmt haben. Sie gingen von Tür zu Tür und schossen in jedem Haus willkürlich auf die Menschen. Das Dorf wurde massakriert und von den ehemals 1.000 Einwohnern wurde die Hälfte getötet. Die andere Hälfte ist entweder geflohen oder blieb schwer verletzt zurück.

Obwohl es dann noch zu kleineren Scharmützeln zwischen uns und dem Regime kam, konnten wir dort nichts ausrichten. Also machten wir uns auf den Weg nach Ariha. Ariha ist eine kleine Stadt in der Nähe, aus der die meisten Angreifer auf Al-Mastouma stammen. Dort griffen wir mehrere Polizeistationen an und zerstörten sie. Bei diesem Angriff konnten wir ungefähr 40 Kalaschnikows erbeuten. Zusätzlich fanden wir 700 Jagdgewehre, die kurz zuvor vom Regime in den Häusern beschlagnahmt wurden. Bei der Munition war unsere Beute etwas knapper, denn wir fanden gerade mal 2500 Schuss.

Von da an bewaffneten sich immer mehr Menschen und täglich gingen wir auf die Straße, um zu demonstrieren.

Die Zuckerfabrik

Meine Schmugglertätigkeit spielte sich immer nachts ab. Tagsüber arbeitete ich oft als Tagelöhner in einer Zuckerfabrik. Eines Tages, als ich dort Schicht hatte, kam eine Gruppe von 20 Mitgliedern des syrischen Sicherheitsapparats und ließen einen meiner Kollegen zu sich rufen. Der Kollege war um die fünfzig Jahre alt und hatte zwei Söhne, die regelmäßig an Demonstrationen teilnahmen. Sie befragten ihn im Kontrollraum der Fabrik zu seiner Familie und verlangten schließlich, dass er seine Familie zu sich holen sollte. Neben den Söhnen hatte er drei Töchter, die kurze Zeit später in der Fabrik erschienen und in den Kontrollraum gebracht wurden. Der Kontrollraum bestand aus einer großen Glasfront und erhob sich mehrere Meter über den Boden, sodass wir Mitarbeiter das komplette Geschehen im Raum mitverfolgen konnten. Die Männer fingen an, die Töchter zu begrapschen, zogen sie aus, befahlen ihnen zu tanzen, bevor sie schließlich vor der gesamten Truppe mehrfach vergewaltigt wurden. Das Ganze zog sich über zwei oder drei Stunden hin.

Ich fühlte mich als, müsste ich explodieren. Doch ich konnte nichts tun, außer auf den Boden zu schauen. Was hätte ich oder die anderen Mitarbeiter gegen 20 schwerbewaffnete Männer tun können? Noch dazu war neben der Fabrik eine kleine Militärkaserne mit ca. 250 Soldaten. Wir waren machtlos. Es ist ein Gefühl von absoluter Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Erniedrigung. Womit haben das diese Mädchen verdient? Sie hatten nichts mit dem ganzen Geschehen zu tun.

Der Vorfall machte mich wahnsinnig. Am nächsten Tag kündigte ich die Arbeit in der Fabrik und setzte mit anderen Männern alles daran, die Verteidigung der Stadt zu organisieren. Ich mietete eine Wohnung in einem kleinen Grenzdorf zur Türkei an und brachte dort alle Frauen und Kinder der Familie unter.

Wir Männer blieben zurück und erstellten Straßensperren. Nachts bewachten wir die Nachbarschaft und tagsüber schliefen wir. Ich habe tagsüber meistens auch noch für die Männer gekocht.

Die Beerdigung

An einen Samstag, es war neun Uhr morgens, hämmerte jemand bei mir an die Tür. Für einen Moment dachte ich, es sind Leute vom Regime, jedoch es war nur mein Cousin.

„Du musst heute in die Stadt kommen. Gestern Abend ist ein Auto an einer unserer Straßensperre vorbeigefahren und hat auf die Jungs geschossen. Vier wurden getroffen, einer ist gestorben, die anderen sind schwer verletzt. Heute Nachmittag ist die Beerdigung. Im Anschluss wird es eine große Demo geben.“

Die Beerdigung war die größte Menschenansammlung, die ich seit Beginn der Vorfälle gesehen habe. Mehrere zehntausend Menschen haben sich versammelt, um den Gefallenen nach dem Totengebet zu seiner letzten Ruhestätte zu bringen. Die Menschenmassen bewegten sich langsam durch die Straßen, überquerten eine große alte Brücke, um auf die andere Seite des Orontes (Nahr al-ʿAsi) zum Friedhof zu gelangen.

Eine größere Anzahl junger Männer und ich waren an diesem Tag bewaffnet, um die Menschenmassen vor den Shabiha und Schergen des Regimes zu beschützen. Aus Respekt vor dem Toten und dem Trauerzug überquerten wir nicht die Brücke, sondern versammelten uns in einem kleinen Park davor. Der Park lag kurz vor der Brücke und war von mehreren hohen Gebäuden umgeben.

Während wir dort warteten, hörten wir laute Schläge gegen eine Tür. Ich versuchte herauszufinden, was da vor sich ging. Schnell erfuhr ich, dass einige Männer versuchten, in die Post einzudringen, um die dort vorhandenen Computer zu stehlen. Ein Streit entbrannte, da ich nicht gekommen bin, um solche Aktionen zu unterstützen. Schließlich entschieden die Männer aus meiner Familie, Brüder und Cousins und ich, uns zurückzuziehen und den Park zu verlassen.

Gerade in dem Moment, als wir uns auf den Weg machen wollten, hörte ich einen ersten Schuss. Dann brach die Hölle los. Es wurde von den Dächern und aus den Fenstern auf uns geschossen. Das Regime wusste von der Beerdigung. Sie hatten sich vorbereitet und uns dort eine Falle gestellt.

Überall um mich herum schlugen Geschosse ein. Der Boden sah aus, als würde er kochen. Einen Freund, mit dem ich gerade noch sprach, traf vor meinen Augen eine Patrone und spaltete seinen Kopf. Ich sah einen anderen, der versuchte einen Verletzten zu sichern, als ihn selbst mehrere Geschosse in die Brust trafen. Dann sah ich einen, der in seinen Mund getroffen wurde und dadurch der Kiefer komplett zerschmettert wurde. Die Patronen durchbohrten die Körper nicht einfach nur, sondern schienen jedes Mal zu explodieren und richteten dadurch noch mehr Schaden an. Der ganze Park war voller Blut.

Sofort warf ich mich auf den Boden und verschanzte mich hinter einer Steinbank, die zufällig in meiner Nähe war.

Von dieser Position aus versuchte ich die Schützen auszumachen. Ich entdeckte einen Scharfschützen an einem Fenster, also schoss ich mit meinem Gewehr auf das Fenster und zerschoss dann nach und nach alle Fenster des Gebäudes.

Das Gewehr, das ich hatte, war neu und ließ sich nur schwer laden. Also setzte ich mich hin, um mehr Kraft aufbringen zu können. In diesem Moment spürte ich etwas Kaltes an meinem Hals. Mit der Hand fühlte ich an der Stelle Blut und ging davon aus, dass es sich um einen leichten Streifschuss handelte. Doch bevor ich mich wieder hinlegen konnte, spürte ich etwas, das tief in meine Schulter eindrang. Ich war wie gelähmt, mein Körper erschlaffte und mein Gewehr fiel mir sofort aus der Hand. Ich dachte ich würde sterben. Fast gleichzeitig spürte ich, wie mein Körper durchgerüttelt wurde, als etwas in meiner Brust explodierte. Mein Kopf fühlte sich so groß an, als hätte er sich auf die Größe des Parks ausgeweitet. Ich schaute auf meine Schulter und sah das Blut in einem dünnen Strahl, wie bei einem Springbrunnen, einen Meter hoch spritzen. Aus meinem Mund und meiner Nase trat Blut aus. Ich dachte, ich würde daran ersticken. Ich wollte schreien, brachte aber keinen Ton hervor. Dann wurde mir weiß vor den Augen und ich sah nur noch schemenhaft, was um mich herum geschah. Irgendwie erkannte ich meinen Bruder. Mit letzter Kraft hob ich den Arm und rief seinen Namen. In diesem Moment traf mich eine dritte Kugel und durchbohrte meinen Unterarm. Mir blieb keine Kraft mehr und ich fiel mit dem Gesicht nach vorne auf den Boden.

Ich kann nicht sagen, wie lange ich dort lag, ohne mich bewegen zu können. Ich hörte Stimmen, die riefen, dass ich gestorben bin. Andere sagten: „Nein, er lebt noch.“

Dann näherten sich mir junge Männer, während andere auf die umliegenden Gebäude schossen, um die ersten zu decken. Sie banden mir eine Schlinge um ein Bein und zogen mich dann nach und nach aus der Schusslinie. Dann setzten sie mich in ein Auto und fuhren los.

Nach ungefähr hundert Metern verlor ich das Bewusstsein.

***

Mittlerweile war es ein Uhr nachts. Nur kurz haben wir die Erzählung unterbrochen, um gemeinsam zu essen. Während er erzählte, merkte man immer wieder, wie ihn das Erlebte immer wieder bewegte. Lange Jahre hat er über vieles nicht geredet. In seinem Kopf ist er jedoch alles immer und immer wieder durchgegangen. Ich versprach ihm, wiederzukommen und ihn bei den Behörden- und Krankenhausgängen zu unterstützen. Wir machten aus, mit seiner Geschichte an einem anderen Tag weiter zu machen.

Als ich diesen Text schrieb, fragte ich mich oft nach dem Wahrheitsgehalt, denn vieles erschien mir so dermaßen extrem, dass es mir manchmal schwer war, ihm Glauben zu schenken. Also verbrachte ich Stunden damit, mich über die Geschehnisse im Jahre 2011 zu informieren. Ich suchte nach den Namen der Dörfer und der Städte, die er erwähnte im Zusammenhang mit den Ereignissen von denen er erzählte. Ich stieß auf mehrere Videos, die das meiste bestätigten.

Weiter zu Teil 2

6 Gedanken zu „Tag 44: Der Aufständische – Teil 1“

  1. Danke dir für den Bericht. Sehr schwer[belastend] zu lesen um wieviel schwerer den Bericht zu hören und auf zu schreiben

    Antworten
  2. Hallo Karim,
    was für ein schockierender Bericht. Ich bewundere den Mann dafür, dass er sich seine Erlebnisse in gewisser Sicht von der Seele reden kann.
    Eine Frage beschäftigt mich aber: Am Anfang steht, der Mann wurde 1983 geboren. Ist er wirklich erst Mitte 30 oder ist das ein Tippfehler? Bei den Erlebnissen könnte er auch locker über 60 sein… Aber mit Mitte 30 in einem Seniorenheim „geparkt“ zu werden, fände ich auch nicht wirklich hilfreich.
    Wie dem auch sei, Danke für Deine Berichte.
    Ich wünsche Dir und ihm ein gutes Verarbeiten der Geschichte.

    Antworten
    • Hallo Christina,
      nein das ist kein Tippfehler. Er ist wirklich 33 Jahre alt. In dem Altenheim ist er auch nur, weil er Pflegepersonal benötigt, die ihn regelmäßig umlagern und ein spezielles Bett. Wir versuchen ihm demnächst in ein Krankenhaus zu bekommen, um zu erfahren, was es für Therapieansätze gibt.
      Viele Grüße
      Karim

      Antworten

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.