Von Tunesien nach Frankreich, zwischen Unterdrückung und Erniedrigung

Einen Teil meiner Kindheit verbrachte ich in Tunesien. In dieser Zeit war Zine-El-Abidine Ben Ali an der Macht. Er beherrschte das Land mit eiserner Hand und führte einen erbitterten Kampf gegen die moderat islamische Opposition, deren wachsende Popularität ihm schon zu Zeiten von Burgiba, seinem Vorgänger ein Dorn im Auge war. Er verbot die Partei dieser Opposition (Ennahdha) und versuchte über Jahre den Islam als Religion immer weiter aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Es wurden Hochschulen für islamische Theologie geschlossen, Moscheen überwacht und beliebte Imame ihrer Ämter enthoben. Doch in all den Jahren galt sein Prominentester Kampf dem Bart der Männer und dem Kopftuch der Frauen. Man nannte diese Politik die Politik der „Austrocknung der Quellen“. Indem die Religiosität der Menschen durch Verbote und Schikane zurückgedrängt wurde, sollten die Quellen der Beliebtheit der Opposition zum Versiegen gebracht werden.

Doch die Rechnung ging nicht auf. Denn in einem Land mit mehreren Jahrhunderten islamischer Geschichte kann man das Bedürfnis nach Religiosität nicht einfach auslöschen. Und weil die Menschen ein Ventil zum Ausleben ihre Religion benötigten, gab es auf der einen Seite diejenigen, die sich für den politisch tolerierten und folkloristisch angehauchten Sufismus interessierten und auf der anderen diejenigen, die über Satellitenschüsseln Vorträge salafistischer Prediger aus den Golfstaaten verfolgten. Die in Tunesien ursprünglich vorherrschende moderate sunnitische Rechtsschule der Malikiten geriet dabei immer weiter in den Hintergrund. Doch das ist ein anderes Thema.

Ein paar Tage nachdem Ben Ali das Land verlassen hatte, flog ich nach Tunesien. Dort nahm ich an einer Demonstration an der Kasbah, dem Sitz der Übergangsregierung in Tunis, teil (Siehe Beitragsbild). Die Revolution war noch im Gange und viele Menschen, jung und alt, mit und ohne Bart, mit und ohne Kopftuch, protestierten für ihre Freiheit. Während der Proteste wurden die Menschen durch die noch immer regimetreuen Sicherheitskräfte mit Gummigeschossen und Tränengas beschossen. Tunesien ZTDie Menschen drängten die Polizei zurück und erstürmten eine Polizeistation. Dort erbeuteten sie kleine Karteikarten auf denen jeweils das Bild einer Frau klebte. Auf den meisten dieser Karten stand „Z.T.“ was für „Zai Taifi“ (religiöse Kleidung) stand. Diese Karten waren ein Zeugnis der polizeilichen Praktiken zu Ben Alis Zeiten. Damals wurden Frauen, die trotz aller Schikane weiter das Kopftuch trugen, dazu verdonnert, sich täglich in einer Polizeistation zu melden, wo sie schikaniert wurden und ihnen auch mal das Kopftuch vom Kopf gerissen wurde. Die meisten betroffenen Frauen waren übrigens Studentinnen.

Es mag für europäische Ohren befremdlich klingen, aber nach der Revolution war einer der Aspekte der neuen Freiheit, die eigene Religion frei auszuleben, was eben auch die Freiheit einen Bart oder ein Kopftuch zu tragen bedeutete.

Natürlich ging es während der Revolution nicht um die Befreiung von Bart und Kopftuch, sondern richtete sie sich primär gegen Korruption, Vetternwirtschaft und Willkürherrschaft. Dass ich hier dennoch den Fokus auf das Kopftuch richte, liegt an der Entwicklung auf der anderen Seite des Mittelmeeres, wo diese Freiheit im Land der Menschenrechtserklärung immer weiter eingeschränkt wird.

Schon lange ist in Frankreich das Kopftuch in Schulen verboten und ich rede hier nicht von einem gesichtverschleiernden Niqab. Begründet wird dieses Verbot mit der Trennung von Staat und Religion. Einige Mädchen versuchten vor Jahren das Verbot mit Bandanas zu umgehen, doch auch dies wurde verboten. Und verboten wurde es erst nachdem Muslimas anfingen es zu tragen, vorher hatte es niemanden gestört. Mädchen die trotz allem weiter ein Kopftuch trugen, wurden sogar von öffentlichen Schulen ausgeschlossen. Hatten sie Glück, konnten sie in private Schulen oder in katholischen Einrichtungen auf eigenen Kosten weiter lernen.

Jungen Männern sollte irgendwann der „islamische“ Bart in einigen Schulen verboten werden. Auch hier wurde es mit der Trennung von Staat und Religion begründet. Dass der kommunistische Politiker Robert Hue Jahrelang mit seinem Bart in der Nationalversammlung saß, störte dagegen niemanden. Aber das war ja auch ein marxistischer Bart. Und falls sich jemand die Frage stellt, was denn nun einen islamischen Bart von einem marxistischen Bart unterscheidet, dem sei gesagt: der Glaube des Trägers, mehr nicht.

Irgendwann kam sogar ein Bürgermeister auf die Idee, Frauen mit Kopftuch den Zugang zum Rathaus an ihrer eigenen Hochzeit zu verwehren; wieder mit der Begründung, Religion und Staat müssen im laizistischen Frankreich getrennt werden.

Mehrere muslimische Mädchen wurden 2014 sogar wegen „zu langen Röcken“ aus dem Unterricht ausgeschlossen.

Und zur Abwechslung versuchte vor kurzem eine Kommune einen Halal-Laden dazu zu zwingen, Schweinefleisch und Alkohol zu verkaufen.

Und nun verbieten immer mehr Kommunen das Tragen des sogenannten Burkinis am Strand. Ein Name der übrigens irreführend ist, da er nichts mit einer Burka zu tun hat. Während eine Burka das Gesicht und sogar die Augen durch ein Gitter verdeckt, ist das Gesicht beim Burkini frei. Dieser ähnelt eher einem langärmligen Surfanzug mit integrierter Badehaube. Dieses Verbot führte nun zu der absurden und erniedrigen Situation, dass vier voll bekleidete Polizisten eine Frau zwingen sich am Strand zu entkleiden.

Was würde wohl passieren, wenn sich jemand mit Hut und Hemd an den Strand setzen würde? Was würde passieren, wenn jemand eine Sonnenallergie hat? Wie sieht es mit Surfer- oder Taucheranzügen aus? Würde man diese Menschen mit Staatsgewalt dazu zwingen mehr haut zu zeigen? Würde es darüber eine Debatte geben? Nein, denn es geht, wie in all den Jahren nur darum Muslime im Land zu schikanieren, um den antimuslimischen Hass im Lande zu stillen und von den eigentlichen Problemen abzulenken. Und auch wenn sich dieses letzte Verbot in eine Reihe von stigmatisierenden Regelungen einzureihen scheint, stellt sie dennoch eine neue Stufe der Eskalation dar, denn zur Begründung des Verbots heißt es: „Es geht nicht darum, das Tragen religiöser Symbole am Strand zu verbieten, sondern ostentative Kleidung, die auf eine Zugehörigkeit zu terroristischen Bewegungen hinweist, die gegen uns Krieg führen“. Mit dieser Begründung werden alle muslimische Frauen, die ein Kopftuch tragen, des Terrorismus bezichtigt. Außerdem wird der Gleichheitssatz mit den Füßen getreten, denn es werden Muslime für etwas bestraft, das bei anderen nicht geahndet wird. Wurde damals noch behauptet, dass es allgemein um religiöse Zeichen ging, so zielt dieses Verbot unverhohlen und speziell auf Muslime ab und gibt all denen recht, die seit Jahren behaupten, dass in Frankreich der antimuslimische Rassismus zur Staatspolitik geworden ist.

Dieser Rassismus geht weit über die Politik hinaus, denn er ist in allen gesellschaftlichen Schichten stark vertreten. Laut Meinungsumfragen steht die Mehrheit der Bevölkerung hinter diesen Gesetzten und Regelungen und das nicht erst seit den Anschlägen und der Gewalt der letzten Jahre, die nun als Begründung des Verbots herhalten muss. Und diese Gewalt erreicht in Frankreich immer wieder neue Höhepunkte nur, weil das Land durch seinen Rassismus und seine erniedrigende Politik den passenden Nährboden dafür bietet.

Als ich als IT-Berater dort arbeitete, sagte mir ein Vertriebler meines damaligen Arbeitgebers geradeheraus, dass er Kunden mein Profil nur mit Initialen vorlegte, da viele es sonst schon zur Seite legen würden, sobald sie auch nur meinen Namen lesen würden. Ein anderer erzählte mir, dass viele Unternehmen unverhohlen sagten, dass sie keinen „Beur“ (Araber) vorgestellt haben wollen. Und dabei konnte ich mich noch glücklich schätzen, überhaupt einen Job zu haben. Viele junge Menschen aus, den mehrheitlich von Arabern bewohnten Vorstädten, hatten nicht dieses Glück.

In diesen trostlosen Vorstädten, den Ghettos Frankreichs, herrscht deshalb auch tiefsitzender Frust. Frust der immer wieder in Hass umschlägt. Schon 2001 als ich in Frankreich lebte, sang die erfolgreiche Rapgruppe „Sniper“: „Frankreich ist ein Biest, und wir wurden verraten.“ („La France est une garce et on s’est fait trahir“). Auch wenn dieses Lied für Empörung sorgte und der damalige Innenminister Sarkozy es sogar verbieten wollte, so sprach es vielen Jugendlichen aus der Seele. Die Klage scheiterte vor Gericht. 

Das nun erniedrigende Bild der Frau, die nebenbei bemerkt, nicht mal in einem Burkini sondern nur mit einem dreiviertel Oberteil und einem turbanartigen Tuch gezwungen wird sich auszuziehen, wird auf der einen Seite den Rassismus und auf der anderen den Hass weiter schüren. Dieser Hass wird zu neuen und sich immer weiter häufenden Gewalttaten führen. Die meisten dieser Gewalttaten werden sich in den Vorstädten entladen, einige andere werden im Namen Allahs ausgeführt und in das Gewand des IS oder anderer Gruppierungen gekleidet. Und doch wird bei allen die Quelle in der immer wiederkehrenden Marginalisierung und Erniedrigung von fast 5 Millionen Muslimen in Frankreich zu finden sein.

Ich habe weder die Erniedrigung noch den Hass ertragen und kehrte 2008 dem Land den Rücken zu und wohne seitdem mit meiner französischen Frau in Deutschland.

In Tunesien trägt heute jeder was er will, in der Stadt und auch am Strand. Dort liegt oft eine Frau im Burkini nicht weit von einer Frau im knappen Bikini. Das gleiche geht auch in Marokko, Ägypten, der Türkei, Jordanien und vielen anderen islamischen Ländern.

Bevor es also heißt: In Saudi-Arabien kann man sich auch nicht im Bikini an den Strand legen, sollte man sich überlegen, ob Frankreich sich wirklich ausgerechnet mit Saudi-Arabien vergleichen möchte.

3 Gedanken zu „Von Tunesien nach Frankreich, zwischen Unterdrückung und Erniedrigung“

  1. Ach Karim, ich bin so traurig und ratlos. Wo soll das alles nur hinführen? Und wo kommt all dieser Hass und diese Angst und diese Missgunst nur her?

    Ich fühle mich als „Bio-Deutsche“, die dagegen anstrampelt und doch am Ende nichts erreicht und nicht verhindern kann, dass Menschen wie du und deine Familie, deine Freunde, auch hier nach und nach angefeindet und diskriminiert werden, so hilflos. Und werde vielleicht eines Tages von meinen Kindern oder Enkeln gefragt, ob ich denn nichts gemerkt habe, ob ich denn nichts getan hätte dagegen, ob ich denn nicht hätte einschreiten müssen. Genau die Fragen, die ich meinen Großeltern gestellt habe und deren „Wischi-Waschi-Antworten“ mich empört haben damals. Ich dachte immer: „Klar, die reden sich raus, haben es halt nicht so recht energisch bekämpft, wollten sich nicht exponieren, haben sich nicht so gekümmert“
    Und heute stehe ich da und merke, dass es ganz egal ist, wie sehr ich mich bemühe, wie viel ich mich exponiere oder nicht, wie laut ich meine Stimme erhebe oder nicht – ich gehe einfach unter. Die Anderen gewinnen. Und ich kann nichts tun um dich zu schützen, deiner Familie Sicherheit zu vermitteln, deinen Kindern zu zeigen, dass sie wertvoll und willkommen sind und dass sie genau wie meine Kinder jederzeit alles tun und alles werden können was sie wollen.
    Noch sind wir nicht in französischen Verhältnissen, aber sie sind schon fast da und Niemand kann sie aufhalten. Was soll nur werden?

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    • Hallo Anja,
      ich verstehe wie du dich fühlst. Es ist wie wenn man sich als Moslem bemüht ein positiver Teil dieser Gesellschaft zu sein und dann irgendwo irgendein Spinner sich in die Luft Sprengt. Man hat das Gefühl alles war umsonst, da Medien und Hetzer so wie so dem Spinner mehr Aufmerksamkeit schenken werden. Doch dieses Gefühl trügt. In jeder Gesellschaft gibt es Extremisten. Diese werden auch immer da sein. Mal sind sie lauter Mal leiser. Den Ton vorgeben können sie jedoch nur, wenn die Gemäßigten und Vernünftigen in der Gesellschaft schweigen. Ich habe in den letzten Monaten so viele Menschen erlebt, die die Stimme in Deutschland für Toleranz erhoben haben. So viele, dass ich zuversichtlich bin, dass in diesem Land die Extremisten nicht so schnell den Ton vorgeben werden. Und du bist eine von diesen Vielen.
      Danke dafür und viele Grüße
      Karim

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      • Danke für deine lieben Worte, Karim. Ich bin manchmal sehr mutlos, aber vielleicht gelingt es uns ja doch, dass am Ende dieses Mal die Menschlichkeit siegt und nicht die Anderen. Ich hoffe es sehr und versuche weiterhin, ein kleines Stückchen dazu beizutragen – genau wie du.

        Herzliche Grüße an dich und deine Familie!

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