Unsere Ältesten – Krieg und Nächstenliebe

Vor ein paar Tagen kam ich mit einer älteren Dame ins Gespräch. Als sie mir von ihren Söhnen erzählte, fragte ich, wie alt sie ist. Sie antwortete: „Ich bin 1936 geboren.“

Wie der Zufall es wollte, hatte ich am Vormittag noch mit einem Syrer das KZ in Dachau besucht. Ich fragte sie also ohne nachzudenken: „Dann haben Sie den Krieg miterlebt.“

Mit ernster Miene antwortete sie knapp: „Oh ja.“

Da sie zum Ende des Krieges 9 Jahre alt war, fragte ich weiter: „Können Sie sich noch an viel erinnern? Sie waren ja noch sehr jung.“

„Oh doch, ich war ja in München. Ich kann mich noch sehr gut erinnern.“

„Woran genau können Sie sich noch erinnern?“

„An die Bomben.“, sagte sie, schaute mich eindringlich an und fügte hinzu: „Wir sind dann immer in den Keller gerannt.“

„Wurde ihr Haus getroffen?“

„Nein das nicht, aber um uns herum fielen überall Bomben. Wir hatten Glück.“

„Wo haben Sie damals in München gewohnt?“

„Das war in der Georgenschwaigstraße, das ist in der Nähe von Schwabing“

„Denken Sie heute noch an den Krieg?“

„Ja natürlich. Das vergisst man nicht. Ich bin lange nach dem Krieg noch in den Keller gerannt. Bei jedem lauten Geräusch.“

„Können Sie sich auch an das Ende des Krieges erinnern?“

„Ja, wir waren im Keller. Überhaupt waren wir die ganze Zeit im Keller. Da kamen dann die Amerikaner. Und es waren viele Schwarze dabei. Vor denen hatte ich zuerst ziemliche Angst.“, sie muss lachen.

„Hatten Sie noch nie einen Schwarzen gesehen?“

„Nein, bis dahin noch nie, aber dann haben die uns Schokolade gegeben, da war dann alles gut.“, sie lachte wieder.

„Hatten Sie da schon mal Schokolade gegessen?“

„Nein, das war das erste Mal. Wir hatten da ja nichts. Im Krieg waren wir ja so arm.“

„In dem letzten Jahr sind sehr viele Flüchtlinge zu uns gekommen. Haben Sie das in den Medien mitgekriegt?“, frage ich.

„Ja das habe ich.“

„Verstehen sie es, dass diese Menschen fliehen und zu uns kommen?“

„Aber natürlich. Was sollen die denn machen? Ich habe den Krieg ja auch miterlebt. Das ist schrecklich.“

„Glauben Sie nicht, dass es zu viele sind? Manche sagen, wir können die nicht alle aufnehmen.“

„Ja und? Wir müssen denen doch helfen. Das wird nicht leicht, aber alleine schon aus Nächstenliebe.“

„Sind Sie gläubig?“

„Ja, schon.“

„Katholisch?“

Sie lächelt und sagt „Nein, evangelisch. Ich bin aus Worms, der Lutherstadt. Und das damals in Bayern.“

„War das was Besonderes?“, frage ich.

Sie lacht und sagt: „Das war damals hier als hättest du die Seuche.“

„Was soll ich als Moslem dann erst sagen?“, frage ich scherzend.

„Na ja in den letzten Jahren ist es ja besser geworden. Da kam ja viel frisches Blut hierher.“

„In den letzten Monaten, bedingt auch durch die Flüchtlingssituation, sind Rechte Parteien in Deutschland ja wieder erstarkt. Haben Sie davon gehört?“

„Ja, davon habe ich gehört.“

„Wie finden Sie das?“

„Das macht mir Angst.“

„Warum?“

„Ich traue denen nicht. Ich habe das ja schon mal erlebt. Das gefällt mir nicht.“

Einen Augenblick hält sie inne, dann sagt sie: „Krieg ist etwas Schreckliches. Aber es profitieren ja so viele davon.“

Sie schweigt wieder und fügt dann hinzu: „Die einzige Gerechtigkeit ist, dass niemand etwas mitnehmen kann.“

„Wie meinen Sie das?“

„Niemand nimmt seine Reichtümer mit ins Grab. Sonst würden die doch alles mitnehmen.“

 

Mein Großvater ist 2000 mit 92 gestorben. Meine Großtante ist 2012 mit 102 gestorben. Beide haben sowohl den ersten als auch den zweiten Weltkrieg erlebt und doch nie über diese Zeit gesprochen. Ich habe sie nie danach gefragt. Heute bereue ich es. Habt Ihr selber Eltern oder Großeltern, die diese Zeit erlebt haben? Haben Ihr schon mal versucht, mit ihnen darüber zu reden? Versucht es doch mal vorsichtig. Es gibt so viel, was wir von unseren Ältesten lernen können.

Und vielleicht sind Ihre Eltern oder Großeltern ja auch bereit mit mir über ihre Erinnerungen von damals zu reden. Sollte dies der Fall sein und wenn sie in München leben, dann schicken Sie mir doch eine kurze Mail an: info@blicktausch.com

Ich würde mich freuen.

 

 

 

 

7 Gedanken zu „Unsere Ältesten – Krieg und Nächstenliebe“

  1. Mein Vater war Baujahr 1922. Aufgewachsen in Lodz in Polen.
    Zusammengefasst: In Polen geboren, aufgewachsen, von den Deutschen verschleppt und zur Zwangsarbeit beim Bauern gezwungen, es nach England geschafft, dort bei den Briten auf nem Air Force Stützpunkt gearbeitet.

    Viel hat auch er nicht erzählt. Eher Momente wo etwas hochkam:
    – Kriegsfilm geschaut mit einem Panzertransporter (also LKW mit Panzern hinten drauf). Da erzählt mein Vater das er so einen auch gefahren ist und sie die Eisenbahnbrücke über die er damit gefahren ist hinter ihm gesprengt haben. Alle Panzer weg, nur die Zugmaschine mit ihm war auf der sicheren Seite.
    – Vater liegt in der Badewanne, auf einmal ein leises *pling*. Nach zig Jahrzehnten hat sich ein Granatsplitter aus der Narbe am Bein gelöst. Der Chirurg hat echt doof geguckt als er da etwas Haut aufsetzen sollte. Unter welchen Umständen die Granate neben ihm hochging hat er nie erzählt.

    Die zwei Sachen die mir immer im Gedächtnis bleiben werden:
    – Mein Vater wuchs in einer Pflegefamilie auf behielt aber immer seinen Nachnamen. Nur wusste er nichts über seine echte Familie. In England auf der Air Force Base lernte er einen Piloten kennen mit gleichen Nachnamen. Sie verabredeten sich im Pub zu treffen zu etwas Ahnenforschung sobald der Pilot vom Einsatz wieder da wäre. Er kam nie wieder.

    Das zweite und für mich Ergreifendste:
    – Ich zog zwecks Ausbildung zuhause aus und in ein anderes Bundesland. Meine Eltern kamen mich besuchen und wir fuhren etwas durch die Gegend um diese in Augenschein zu nehmen. Als wir durch ein kleines Örtchen fuhren fing mein Vater an zu weinen. Für mich, auch als erwachsener Mann, undenkbar meinen Vater weinen zu sehen. Er erzählte dann, das dies das Dorf wäre wo er als Zwangsarbeiter beim Bauern gewesen war und er sich jetzt auch daran erinnert, dass in dem Dorf in dem ich nun lebte der Schuster war zu dem er mit einem Bezugsschein gelaufen ist für neue Stiefel. Wir fuhren lange durch diesen Ort, jede Straße rauf und runter ob wir den alten Hof wiederfinden. Ich weiß nicht ob es gut oder schlecht war, dass wir diesen nicht gefunden haben.

    Ein gutes Wort für Rechte hatte mein Vater nie. Wer sollte es ihm verdenken?

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  2. Ja, fragen ist wichtig, wenn die Eltern und Großeltern versäumen, von alleine zu erzählen.
    Ich habe es auch versäumt zu fragen. Niemand der vorhergehenden Generationen lebt mehr.
    Ich schreibe aber meine Memoiren.

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  3. Auch meine Eltern haben den Krieg erlebt. Zum Glück war ich immer sehr interessiert und habe meine Eltern über alles ausgefragt. Irgendwann hat mir meine Mutter einen Ordner mit über hundert Briefen gegeben, die ihr mein Vater während des Krieges schrieb. Es sind Briefe die teilweise unter die Haut gehen und ich habe meinen Vater (damals schon verstorben) von einer ganz anderen Seite kennengelernt. Als Fahrer eines Offiziers kam er in ganz Europa herum und wurde in Italien bei einem Angriff der Alliierten verletzt und kam nach Wasserburg am Inn in ein Lazarett. Dort lernte er meine Mutter kennen. Was dann folgte habe ich aufgeschrieben, teils habe ich noch lebende Geschwister meiner Eltern gefragt, denn nachdem meine Mutter an Alzheimer erkrankte blieben noch viele Fragen offen.

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  4. Meine Großeltern haben sich sehr zurückgehalten mit Antworten, sie sagten über die Nazizeit, dass man abgeholt worden wäre, hätte man was gegen die Nazis gesagt. Diese Angst war ja auch nachvollziehbar. Aber deutlich offener wurde über die Bombardierung durch die Alliierten gesprochen, über den Einmarsch der Russen und die Not der ersten Nachkriegsjahre. Ich lernte mal zwei ältere Frauen kennen, die recht glaubwürdig erzählten, dass manche Soldaten absichtlich daneben geschossen haben (auf beiden Seiten der Front). Es gibt ein Zeitzeugen-Portal „Gedächtnis der Nation“, die Erinnerungen gehen zurück bis in die Weimarer Republik. „Fragt uns, wir sind die Letzten“ ist ein weiteres Zeitzeugenprojekt. Der Schriftsteller Walter Kempowski hat schon in den 1950ern Fragen gestellt, eines seiner Bücher sammelt Antworten und heißt „Haben Sie Hitler gesehen? Haben Sie davon gewusst?“ (d. h. von den KZs). Wehrmachtsdeserteure wie u. a. Ludwig Baumann sind weitere Zeitzeugen. Und es gibt auch Feldpost-Archive im Internet.

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