Tag 49: Murnau – Patient zweiter Klasse

Donnerstag, der 13.10.2015

Nachdem ich vor einigen Monaten mit Samir, im Krankenhaus Bogenhausen in München war und man uns dort empfohlen hat eine spezialisierte Querschnittsgelähmten-Klinik aufzusuchen, machte ich einen Termin in Murnau aus. Wir reichten das ärztliche Empfehlungsschreiben beim Landratsamt ein und erhielten einige Wochen später eine Zusage für die Kostenübernahme.

(Die ganze Geschichte von Samir kann man hier nachlesen)

Vor genau einem Monat war ich dann mit Samir in Murnau. Begleitet hat uns ein pensionierter Arzt, der sich in Erding für Flüchtlinge einsetzt. Samir wurde mit einem Krankentransport, den wir zuvor bestellt hatten, nach Murnau gefahren. Begleitet wurde er bei der Fahrt von dem pensionierten Arzt. Ich ging noch für ein paar Stunden in der Früh zur Arbeit und machte mich dann von dort auf den Weg.

Hoffnungsvoll sah ich dem Tag entgegen. Ich stellte mir vor, was es für Behandlungs- und Rehamöglichkeiten gab und sah Samir schon wieder auf den Beinen. Doch ich sollte bitter enttäuscht werden.

BGU Murnau

Wir trafen uns in der Cafeteria des Krankenhauses, gingen kurz die Unterlagen durch und machten uns dann auf den Weg zur Patientenaufnahme des MVZ. Ich schob Samirs Rollstuhl durch die Gänge und achtete besonders darauf seine ausgestreckten Beine nicht zu stoßen. Er schwieg. Ich spürte seine Spannung.

Als wir zur Anmeldung kamen, stellte sich schnell heraus, dass man uns einen Termin in der falschen Station gegeben hatte. Wir befürchteten schon, den ganzen Weg umsonst auf uns genommen zu haben. Ein Arzt erklärte sich dann doch bereit, unseren Fall anzuschauen. Der Neurochirurg bat uns in den Untersuchungsraum und hörte sich interessiert die Zusammenfassung der Situation von Samir an. Er stellte mehrere Fragen und interessierte sich speziell für die noch vorhandenen bzw. seit neuem in den Beinen wieder auftretenden Reizgefühle . Dann erklärte er uns, dass Samir einen Termin im Querschnittszentrum benötigen würde und man ihm dort vielleicht helfen könnte. Dies würde wieder mehrere Wochen Wartezeit bedeuten, Samir würde wieder vertröstet werden, man müsste erneut einen Krankentransport reservieren und ich müsste mir erneut einen Tag frei nehmen. Ich hatte mir das anders vorgestellt. Während wir noch im Raum saßen und mir all das durch den Kopf ging, griff der Arzt dann doch Telefon und versuchte, jemanden aus dem Querschnittszentrum zu erreichen. An der Wand hing ein Plakat auf dem in großen Buchstaben einfach nur das Wort „Augenblicke“ stand. Ich musste schmunzeln und irgendwie stimmte es mich optimistisch. Ich machte mir Hoffnungen, dass es doch noch zu einer Untersuchung kommt.

Der Arzt erreichte den Oberarzt, doch dieser schien keine Zeit zu haben. Er versuchte es erneut unter einer anderen Nummer und erreichte diesmal die Chefärztin des Querschnittsgelähmten-Zentrums. Diese bat ihn, den Oberarzt erneut anzurufen und versprach, dass sie ihn anweisen würde sich den Fall anzuschauen.

Er rief also erneut den Oberarzt an und fing an den Fall zu schildern blieb dann jedoch mitten im Satz stehen, hörte zu und sagte: „Ich glaube es handelt sich hier um einen anderen Fall…“ Wieder hörte er zu „… ja aber bist du dir sicher?… Das kann ich so aber nicht akzeptieren, da brauche ich aber einen Namen von dir.“ Der Arzt schien irritiert. „…Soll ich das dem Patienten jetzt echt so weitergeben?“ dann legte er auf, schaute noch ein paar Sekunden nachdenklich auf Samirs Unterlagen bevor er den Kopf hob und sagte: „Tut mir leid, aber die Querschnittsgelähmten-Station lehnt es ab, ihren Fall anzunehmen.“

Ich bin irritiert und zutiefst schockiert und glaube an eine Verwechslung. „Wie jetzt: sie lehnen ab den Fall anzunehmen? Wollen die denn nicht mal untersuchen? Dürfen die sowas? Einfach so?“

Der Arzt schaut mich mit verzogener Miene, selbst sichtlich irritiert, an und sagt: „Was soll ich ihnen sagen? Ich verstehe es gerade auch nicht. Deshalb habe ich ja noch mal nachgefragt.“ Er überlegt, tippt eine Nummer in das schnurlose Telefon und sagt „Ich werde noch mal mit der Chefärztin sprechen.“ Er telefoniert kurz und legt dann wieder auf und sagt: „So, anscheinend hat sie noch mal mit ihrem Oberarzt telefoniert und er wird jetzt doch vorbeikommen um sich ihren Fall anzuschauen.“

Der Arzt brachte uns in einen anderen Raum und wir warteten bis der Oberarzt aus der Querschnittsgelähmtenstation kam. Als er den Raum betrat grüßte er Samir und dann alle anderen mit ernster Miene. Wieder schilderte ich dieSituation. Er hörte sich ungeduldig meine Zusammenfassung an und ohne auch nur eine einzige Frage zu stellen, bat er uns, Samir auf eine Liege zu legen. Der Krankentransportfahrer und ich hoben Samir mit Mühe aus seinen Stuhl und hievten ihn auf die Liege. Dann drehten wir ihn auf seine Seite. Der Arzt öffnete den Verband, mit dem ein Dekubitus am Gesäß abgedeckt war, schaute kurz rein, es waren keine 10 Sekunden, deckte die Wunde wieder ab und sagte: „Der muss mindestens 5 Monate in einer spezialisierten Querschnittsgelähmten Klinik liegen“. Die Aussage erfreute mich, da ich dachte, er sah nun seinen Irrtum ein. Der uns begleitende pensionierte Arzt sagte fragend: „Das bedarf doch einer chirurgischen Revision?“, der Oberarzt antwortete knapp „Mehrere! Mehrere chirurgische Revisionen“. Dann verließ er den Raum. Drei Minuten später kam er wieder rein und bat den uns begleitenden Arzt, ihn nach draußen zu begleiten. Die Geste ärgerte mich. Ich fragte mich, warum er dieses Gespräch nicht direkt vor Samir führte, da der Arzt ja nur ein Helfer ist.

Nach 5 Minuten traten beide wieder in den Raum ein. Der pensionierte Arzt verzog frustriert sein Gesicht und der Oberarzt erklärte uns: „Seine Dekubitus sind zu tief und es haben sich bereits Bakterien in die Knochen eingenistet. Diese wird man nicht mehr los. Man kann nur noch regelmäßig seinen Wundverband wechseln. Wir können hier nichts für ihn tun.“

Mein vorsichtiger Optimismus schlug in absolute Fassungslosigkeit um. Hieß es doch eben noch, dass man es mehrere chirurgische Revisionen benötigen würde, soll nun auf einmal ein regemäßiger Verbandswechsel alles sein, was man für ihn machen kann? Ich fragte: „Kann man denn nichts operieren?“.

„Man könnte natürlich versuchen den Knochen abzuschaben und die Wunde zu säubern, aber das ist ungewiss und die Aussichten auf Erfolg sind gering. Und außerdem wäre das viel zu teuer. Wir reden hier von geschätzt 150 Tausend Euro. Wer soll das zahlen? Außerdem können wir ihn hier nicht mehr aufnehmen. Wir haben bereits drei querschnittsgelähmte Syrer. Wir müssen auch unsere Leute… Wissen sie? Deutsche behandeln.“

Der pensionierte Arzt neben mir schwieg. Sein Blick fixierte einen Punkt auf den Schreibtisch und ich glaubte seine Enttäuschung förmlich zu spüren. Samir saß in seinem Stuhl, er sagte auch nichts und schaute auf den Boden. Er schien zu verstehen und in sich zu versinken. Für einen Augenblick war ich sprachlos, dann versuchte ich das Beste aus der Situation zu machen und sagte:

„Ok ich verstehe, dass sie vielleicht keinen Platz hier haben, aber das ist eine andere Sache. Ich erwarte dennoch, dass sie uns hier eine Option geben, einen Weg, der zu beschreiten wäre. Eine qualifizierte Aussage über mögliche Behandlungsoptionen.“

„Am besten sie holen sich einen ambulanten Pflegedienst und einen Wundmanager, der sich um ihn kümmert und das dann in dem Pflegeheim macht.“, sagte er.

„Und was ist mit seinem Rücken, der Querschnittslähmung?“, fragte ich, war es doch einer der Hauptgründe, weshalb Samir die ganze Reise auf sich genommen hat.

„Da lässt sich nichts mehr machen. Das ist 5 Jahre her. Wir machen nur akute Behandlung. Wenn das Rückenmark einmal verletzt ist, dann ist es für immer verletzt.“

Er sagte es, als würde er von einem kaputten Auto reden, einem Gegenstand, bei dem allein schon der Versuch ihn zu reparieren, sich nicht lohnen würde und das ohne auch nur einen Blick auf die mitgebrachten unterlagen geworfen zu haben. Vor meinen Augen sah ich Samir, der das Meer in einem Schlauchboot sitzend in einem alten klapprigen Rollstuhl überquert und fragte mich, ob es das nun sein sollte?

„Ja und das war‘s?“, frage ich fassungslos. „Und was ist mit Rehamaßnamen? Kann man da nichts machen?“

„Doch natürlich, er kann ein bisschen Sport machen, mit den Armen und dem Oberkörper“ der Oberarzt streckt die Arme als würde er ein unsichtbares Gewicht stemmen und streckt sie danach vor seinem Körper aus. Es sah aus, als würde er jemandem mit Muskelkater raten, ein paar Dehnübungen zu machen. Ich fragte mich, ob er sich über uns lustig macht.

„Keine Physiotherapie?“, frage ich ungläubich.

„Doch natürlich, ein Therapeut könnte ihn dabei ein wenig unterstützen.“

Nach dem Gespräch war ich platt. Noch nie habe ich mich so von einem Arzt abgefertigt gefühlt, obwohl ich ja nicht der abgefertigte war, sondern Samir. Zwischendurch übersetzte ich immer wieder für Samir. Sehr schnell sah ich wie er innerlich abschaltete. Es war als würde eine innere Flamme erlöschen. Er fragte mich, ob der ganze Weg hierher umsonst war. Ich hatte keine Antwort für ihn. Denn in dem Moment erschien es mir so.

Der Arzt versprach uns einen Bericht zu schreiben und verabschiedete sich trocken, bevor er ging.

Später sprach ich mit dem pensionierten Arzt und fragte, was der Oberarzt vor der Tür gesagt hatte.

„Er sagte, dass das alles zu teuer wäre, dass sie schon drei Syrer haben, die kein Deutsch sprechen und dass ihm deshalb die Krankenschwestern davonlaufen würden. Außerdem fragte er rhetorisch, wer das überhaupt alles bezahlen solle? Ich antwortete ebenso mit einer rhetorischen Frage: wer würde es denn für Deutsche bezahlen?  Darauf antwortete er, dass es natürlich durch die Kassen bezahlt würde. Im Gegensatz zu den Flüchtlingen haben die Deutschen aber auch jahrelang in diese Kassen eingezahlt.“

Der Arztbericht

Zwei Wochen später erhielt Samir den versprochenen Arztbericht per Post. In dem Befund, wird der Dekubitus am Gesäß so beschrieben, wie er unmöglich in den paar Sekunden und vor allem bei den Lichtverhältnissen begutachtet werden konnte. Des Weiteren werden die Dekubitus an den Füßen beschrieben, obwohl der Verband an diesen während der Untersuchung nicht entfernt wurde und der Arzt sich unmöglich eine eigene Meinung bilden konnte. Zu der Verletzung am Rücken schreibt er, dass diese reizlos ist, obwohl er sich zu keinem Moment die Mühe gemacht hatte, diese zu untersuchen.

Und obwohl ich doch damit gerechnet habe, dass in dem Bericht keine ernsthafte Diagnose stehen konnte, so war ich doch überrascht über die offensichtliche und schamlose Vortäuschung einer ordentlichen Untersuchung, deren Zeuge nicht nur ich und der pensionierte Arzt war, sondern auch noch der Krankentransportfahrer.

Ich telefonierte mit dem pensionierten Arzt und er nahm sich vor, eine Email an die Chefärztin des Querschnittsgelähmtenzentrums zu schreiben, in dem er sich über den Umgang des Oberarztes beschwerte und um einen zweiten ordentlichen Termin für eine qualifizierte Meinung bat.

Eine Antwort steht auch zwei Wochen später noch aus.

Kleine Hoffnung

Der Termin in Murnau war ein herber Rückschlag und belastet sowohl mich als auch alle anderen, die sich um Samir sorgen, sehr. Mein Arbeitskollege, der auch arabisch spricht, und oft für Samir dolmetscht oder ihn auch einfach mal nur besucht, die Deutschlehrerin, die viel mehr für Samir tut als nur Deutsch zu unterrichten, die Pflegerin aus dem Altenheim, die sich persönlich mit ihrem Mann für ihn einsetzt, der pensionierte Arzt, der uns begleitet hatte und weiterhin versucht sein Netzwerk zu aktivieren, alle reagierten enttäuscht, fassungslos und meist sogar wütend.

Doch niemand konnte sich in Samir versetzen. Zwei Tage lang hörte ich nichts von ihm. Er sagte mir später, dass er es erst verdauen musste und wie betäubt war.

Ich versuchte ihm Mut zu machen und versprach, mich weiter einzusetzen. Ich stimmte mich mit den anderen Helfern ab und die Deutschlehrerin versprach ihn öfter zu besuchen. Wir fanden einen Physiotherapeuten, der versprach Samir regelmäßig zu besuchen. Mittlerweile besucht er ihn mindestens vier Mal in der Woche und übt mit ihm. Angestrebtes Ziel ist, das Samir sich alleine in den Rollstuhl hieven kann und somit an Autonomie gewinnen wird. Der Physiotherapeut ist guter Dinge und hat festgestellt, dass Samir keine komplette Querschnittslähmung haben kann. Samir selbst sagt, dass er seitdem Dinge spürt, die er bisher noch nie gespürt hat.

Wir werden versuchen ihn erneut im Klinikum Bogenhausen vorzustellen, dort erscheint uns der Umgang mit Menschen wie Samir menschlicher zu sein.

Das Altenheim

Die Situation im Altenheim hingegen ist immer noch schwierig bis grenzwertig. Vor einigen Wochen bat Samir darum ins Krankenhaus gebracht zu werden, damit der Katheter für die Harnentleerung gewechselt wird, da er das Gefühl hat, dass dieser sich langsam verstopft. Normalerweise muss dieser alle 6 Wochen ausgetauscht werden. Seit dem letzten Wechsel sind jedoch bereits 8 Wochen vergangen. Mehrere Male baten wir die Heimleitung ihn in ein Krankenhaus zu bringen, 3 Wochen lang wurden wir vertröstet. Als Samir anfängt sich über Kopfschmerzen und Druck im Unterleib zu beschweren, bietet ihm die Altenheimleitung eine Schmerztablette an, die er dankend ablehnt. Mein Kollege und ich entscheiden uns daraufhin auf eigene Faust den Notarzt anzurufen. Samir wird ins Krankenhaus gebracht, wo festgestellt wird, dass der Katheter verstopft und seine Blase voll war.

Teil 6 seiner Geschichte ist hier nachzulesen.

6 Gedanken zu „Tag 49: Murnau – Patient zweiter Klasse“

  1. Es müsste eine offizielle Stelle geben, die sich solche Fälle näher anschaut und sie überprüft! Mir fehlen auch die Worte – es ist so empörend, was du hier geschildert hast, dass man das Ganze kaum aushält.
    Danke.

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  2. Hallo, ich bin besagter Physiotherapeut aus dem Artikel.
    Vielen Dank erstmal für das Aufschreiben von Samirs Geschichte. Es hat mir geholfen, die Zusammenhänge zu erkennen, die zu seinen Verletzungen geführt haben.
    Da ich ein täglicher Leser der Süddeutschen Zeitung bin, sind mir die Zustände in Syrien nicht neu. Trotzdem bin ich immer wieder erschüttert über die Brutalität der Ereignisse. Es tut mir sehr leid, was dort passiert ist und weiterhin passiert.
    Leider ist uns die Brutalität der Menschen auch aus der Geschichte Deutschlands nur zu gut bekannt. Mein Vater war auch Flüchtlingskind aus Schlesien, sein Vater ist erschossen worden, die Nazis waren ein Alptraum.
    Ich hoffe also einfach, ich kann ein wenig Gutes beitragen zur Genesung von Samir.

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    • Hallo Ralph,

      es freut mich ganz besonders von dir hier zu lesen. Ich hoffe, wir sehen uns irgendwann mal vor Ort. Ansonsten vielen Dank für deinen Einsatz, du gibst Samir viel Hoffnung.

      Grüße

      Karim

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  3. Hallo Karim,

    Wie geht es Samir inzwischen?
    Ich bin gerade erst auf dein Blog gestoßen – sehr sehr gut, was du schreibst. Danke!

    Wenn Samir immer noch in dem Heim vergammelt, und auch der Besuch der Heimaufsicht nichts gebracht hat, wäre es an der Zeit, die Presse auf die Zustände aufmerksam zu machen. Dekubitus ist immer ein Fehler der Pflege, wenn man korrekt gepflegt und gelagert wird, darf es nie zu sowas kommen. Auch alte Wunden können sich wieder schließen wenn die Pflege gründlich ist. Nach der Beschreibung vom August könnte ich mir sogar vorstellen, dass eine Anzeige wegen Körperverletzung nicht chancenlos wäre. (Du merkst, ich bin sauer!)

    Viel Glück dir und deinen Freunden!

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