Samstag, der 23.04.2016
Es war der letzte Tag in Idomeni. Ich begab mich in der Früh ins Parkhotel und überlegte, wie ich die Spendengelder, die ich immer noch nicht ausgegeben hatte, sinnvoll einsetzen könnte. Das war kein leichtes Unterfangen, da ich über viertausend Euro dabei hatte. Ich entschied mich, mir die Feldküche, die im Garten des Hotels aufgebaut war, genauer anzuschauen.
Barrys Küche
Die Küche besteht aus zwei Anhängercontainern, die ungefähr 12 Meter auseinander aufgestellt sind und zwischen denen eine Zeltplane gespannt wurde, um Regen und die von den Bäumen herabfallenden Blätter abzufangen. Der Boden ist mit kunststoffgeschützten Holzbrettern ausgelegt. Mehrere Helfer schnitten Zitronen, schälten Gemüse oder zerkleinerten Tomaten. Auf vier großen Gaskochern standen riesengroße Kochtöpfe, in denen bereits eine Tomatensoße vor sich hin brodelte. Mitten in der Küche stand Barry, ein bärtiger, freundlich dreinschauender Mann in weißem Kochkittel.
Barry ist der Chef der „Hot Food Idomeni“- Küche. Er erklärt mir, dass sie ausschließlich veganes Essen zubereiten. Außerdem kauft er soweit wie möglich alle Zutaten bei lokalen Produzenten ein.
„Ich könnte die Zwiebeln für den halben Preis aus Mazedonien bekommen. Ich sehe aber nicht ein, dass ich das Geld dort ausgebe, wo man meine Freunde verprügelt. Die Griechen tragen eine Last und wenn sie etwas profitieren können, dann ist es gut so.“, sagt er und seine Einstellung leuchtete mir ein.
Weiter sagt er: „Ich hätte einen großen Elektrokocher mit einem integrierten Rührarm kaufen können. Man hätte Markierungen und würde alle Zutaten abmessen und in den Topf geben. Dann würde man das Ganze machen lassen und am Ende hätte man eine fertige Suppe.“ Er ist Lebensmittel-Techniker und weiß, wovon er redet. Dann fügte er noch hinzu: „Aber wo wär die Liebe dabei?“. Er schaute mich an, lächelte, dann redet er weiter: „Unser Ziel ist es, Qualitätsessen günstig und fair zuzubereiten und den Menschen dabei ihre Würde zu lassen. Für die Essensausgabe haben wir ein System entwickelt, mit dem wir pro Mensch 1,5 Sekunden benötigen. Weißt du wieviel die großen Organisationen im Camp brauchen? Ganze 8 Sekunden. Deshalb bilden sich überall elend lange Schlangen.“
Ein paar Tage zuvor ist mir der Anhänger bereits im Camp aufgefallen. Ich bemerkte, dass die Menschen kaum anstanden und alles sehr schnell und geordnet funktionierte, und das obwohl es keine Absperrungen gab.
„Wenn du die Menschen schnell bedienst, dann kommt es zu weniger Streitereien. Du musst ihnen mit Respekt begegnen und sie werden sich deinen Regeln anpassen. Wenn sich jemand vordrängelt, dann gehe ich zu ihm hin, nehme ihn zur Seite und rede mit ihm. Die meisten entschuldigen sich dann einfach.“
Ich war von Barry, seiner Küche und den kochenden Helfern schwer beeindruckt und beschloss, alle an diesem Vormittag eingehenden Lieferungen von den mitgebrachten Spendengeldern zu bezahlen. Ich kaufte eine Tonne Reis, einen Lieferwagen voll Gemüse und Geschirr für die Essensausgabe. Außerdem bezahlte ich eine Bestellung von 4 weiteren Edelstahlkochtöpfen, die Barry benötigte, um seine Kapazitäten zu erhöhen und ließ etwas Geld für die täglich ankommenden Brotlieferungen zurück.
Erleichtert um ein paar Tausend Euro und um eine Last, die ich seit dem ersten Tag in Griechenland mit mir umhertrug, machte ich mich auf den Weg ins Camp.
Letzte Runde
Angekommen im Camp drehte ich meine letzte Runde. Ich verteilte, was mir an Sonnencreme, Wundschutzsalben und Insektenschutzmittel geblieben war. In einem etwas abgelegenen Zelt saßen zwei junge Männer und eine junge Frau. Sie freuten sich über die Sonnencreme bevor der eine fragte: „Was glaubst du wird hier noch geschehen? Werden sie die Grenzen öffnen?“
Ich war ehrlich zu ihnen und sagte, dass ich das nicht glaube. Dann fragte ich, warum sie geflohen sind.
„Ich möchte nach Deutschland, um mich behandeln zu lassen. Ich wurde von einem Splitter im Fuß getroffen. Meine Achillessehne wurde durchtrennt und ich kann seitdem meinen Fuß nicht mehr steuern.“
Schlangen
Ich ging weiter, umrundete den Tümpel und ging den Grenzzaun entlang. An meinem ersten Tag waren hier mehrere Zelte, in denen Familien wohnten. Diesmal stand nur noch ein einziges dort. Vor dem Zelt standen vier junge Männer. Ich fragte sie: „Was ist los hier? Wo sind die alle hin?“
„Heute Nacht ist eine Schlange zwischen den Zelten gekrochen und hat den Kopf in eines gesteckt. Die Leute sind in Panik geraten und haben ihre Zelte weiter weg neu aufgebaut. Nur wir sind geblieben. Wir sind junge Männer, uns macht das nicht so schnell Angst. Wenn du aber mit Kindern hier bist, dann reagierst du anders.“, sagt einer der Vier. Er ist recht dick und hat einen gemütlichen irakischen Akzent.
„Ist ja auch kein Wunder, die haben ständig Eier gekocht, morgens, mittags und abends. Das zieht die Schlangen an. Schlangen lieben Eier.“, sagte ein anderer, ebenfalls mit irakischem Akzent.
Der dritte junge Mann ist Syrer und beschwerte sich über Mückenstiche. Wir redeten eine Weile über Mücken, Schlangen und andere unangenehme Dinge, bis der etwas dickere Iraker anfing von seiner Flucht zu erzählen.
Irak
„Ich war in Izmir. Ich habe einen Schlepper kennengelernt und habe ihn eingeladen, wir haben zusammen gegessen. Am Tag darauf hat er mich in einen Nachtclub eingeladen. Wir haben zusammen gefeiert und ich habe ihm sogar eine Uhr geschenkt. Eine Rolex.“
„Eine Rolex?“, frage ich überrascht.
„Ja eine Rolex.“, sagt er bestimmt.
„Aber die kosten doch ein paar zehntausend Euro.“
„Bei uns im Irak sind die nicht so teuer.“
„Dann sind es Fälschungen?“
„Naja fast, aber die haben eine sehr gute Qualität und kosten nicht mehr als 150 Dollar. Jedenfalls rief der Mann mich am nächsten Tag an und sagte, dass er ein Boot hat mit drei syrischen Familien, die nach Athen wollten und dass ein Platz für mich frei wäre. Es war ein Jacht, kein Schlauchboot. Ich fragte ihn, wieviel es kosten würde. Er sagte: ‘Achthundert Dollar. Der Preis gilt nur für dich. Das ist ein Geschenk‘. Und es stimmte, denn die beiden Jungs hier haben 2000 Dollar bezahlt.“
„War die Jacht besser als ein Schlauchboot?“
„Wir haben darin sogar schlafen können.“
„Wieviel Personen waren auf der Jacht?“
„Ungefähr 35 Leute waren es.“
„War es kleiner als ein Schlauchboot? Denn da passen ja meistens bis zu 60 Personen rein.“, frage ich nach.
„Nein es ist viel größer. Es war mindestens 10 Meter lang und ragte 1,5 Meter aus dem Wasser. Da waren Bänke und die beiden Jungs haben sogar geschlafen. Es war sehr bequem. Als wir dann in Griechenland angekommen sind, waren wir zunächst 20 Tage in einem Militärcamp in Thessaloniki, dann haben sie uns hierher gebracht. Hier ging es dann nicht mehr weiter. Seit wir hier sind, essen wir und schlafen. Etwas anderes gibt es nicht zu tun, wie du siehst.“
„Warum bist du eigentlich aus dem Irak geflohen?“
„Wegen der ethnischen Spannungen und des Kriegs.“, antwortet er.
„Wie waren die Auswirkungen dieser Spannungen auf dein Leben?“
„Wenn du Geld hast, dann wirst du entführt, damit sie dir dein Geld abnehmen.“
„Ist dir sowas schon mal passiert?“
„Nein, ich habe das Land verlassen bevor mir das passiert.“
„Und deine Familie ist dort geblieben?“
„Ja, sie sind dort geblieben, sie haben mich aber dazu ermutigt zu gehen. Früher bin ich viel gereist, habe moderne Autos gekauft, bin auf Partys gegangen; ich war ein richtiger Lebemensch.“
„Das ist dort nicht mehr möglich?“
„Nein, das ist vorbei. Also dachte ich mir, ich gehe nach Europa“
Während wir sprechen stehen die drei anderen neben uns und hören zu. Über das Gesicht des einen zieht sich eine große Brandnarbe. Ich frage ihn: „Wo kommst du her?“.
„Aus der Al-Anbar-Region. Wir sind wegen des Kriegs gegen Daesch (IS) geflohen. Wäre Daesch nicht, würde es uns dort nicht mal so schlecht gehen.“, antwortet er.
„Ist Al-Anbar kurdische Region?“, frage ich.
„Nein, wir sind sunnitische Araber.“
„Und Daesch greift euch trotzdem an? Die behaupten doch, dass sie auch Sunniten sind“, frage ich verwundert.
„Ohne die ging es uns doch viel besser“, sagt er, bevor der dickere Iraker hinzufügt: „Daesch hat den Sunniten doch am meisten geschadet. Und das sind auch keine normalen Sunniten. Das sind extremistische Wahhabiten. Wir wissen nicht mal, woher die ganzen Daeschleute auf einmal kamen.“
Der junge Mann mit dem verbrannten Gesicht redet weiter: „Daesch ist vor allem bei uns vorhanden. In der Al-Anbar Region (West-Irak). Ich komme aus der Stadt Ramadi. Ramadi ist praktisch zerstört. Im Süden gibt es noch Gegenden, in denen die Menschen ein relativ normales Leben führen können. Bei uns in Ramadi sind 80% der Gebäude zerstört.“
„Wie groß ist Al-Anbar?“
„Es erstreckt sich über ein Drittel des Iraks, es ist die größte Region im Lande.“
„Und das hat Daesch einfach angegriffen?“
„Ja, die ziehen mit schnellen Fahrzeugen von einer Gegend zur nächsten.“
„Die Sahouat haben aber angefangen große Gebiete wieder zu befreien.“, sagt der dritte Iraker.
„Was sind die Sahouat?“, frage ich.
„Das sind die Ascha‘ir bzw. die Großfamilien, die sich zu Bürgerwehren zusammengetan haben und gegen Daesch kämpfen.“
„Stimmt es, dass das Militär sich manchmal vor Daesch zurückzieht?“
„Nein, das stimmt nicht. Sie kämpfen auch, aber es ist nichts mehr übrig dort. Die Häuser sind zerstört. Mein Haus, unsere Autos, alles ist weg. Meine Familie ist in den Norden geflohen nach Arbil. Ich bin der einzige, der hierhergekommen ist. Für die anderen hat das Geld nicht gereicht. Ich bin über Syrien in die Türkei und dann von dort hierhergekommen.“
„Ihr seid über Syrien geflohen? Lässt Daesch das zu?“, frage ich in die Runde.
„Nein, Daesch versucht das natürlich zu unterbinden. Wir haben deshalb Schlepper bezahlt. Die haben manchmal einen LKW und verstecken die Menschen hinter Transportgütern in der Ladefläche.“
„Darf ich fragen, was mit deinem Gesicht passiert ist?“, frage ich ihn.
„Ich habe mich an einer Kochstelle verbrannt als ich acht Jahre alt war.“
Ich frage den vierten jungen Mann, woher er kommt.
„Aus Al-Scham (Damaskus).“ antwortet er mit syrischem Dialekt.
„Warum bist du geflohen?“
„Vor dem Krieg. Meine Familie hat mich weggeschickt.“
„Warum sind sie nicht mitgekommen?“
„Weil wir nicht genug Geld für die Flucht hatten. Also haben sie mich geschickt, damit ich den Familiennachzug organisieren kann.“
„Wie alt bist du?“
„16“
„Gibt es hier in Griechenland keine Sonderbehandlung für Minderjährige?“
„Nein, weder minderjährig noch minderwertig. Wir sind alle in der gleichen Situation“.
Der Aufgebrachte
In dem Moment kommt ein fünfter junger Mann an. Seinem Dialekt nach ist er Iraker. Er schimpft und wütet aufgebracht.
„Was steht ihr hier rum? Ihr solltet mir mit dem Zelt helfen. Diese Interviews bringen doch sowieso nichts. Das ist doch alles nur vergeudete Zeit. Es wird sich hier nichts ändern. Das hatten wir doch alles schon. Und was hat es bewirkt? Garnichts.“
Und obwohl er mir gegenüber im ersten Moment nicht gerade freundlich gesonnen schien, hörte er nicht mehr auf zu reden:
„Wir leben hier seit zwei Monaten wie Hunde. Wir sind nicht wie die Syrer. Die Syrer essen ein Sandwich und dann schlafen sie die Nacht durch. Wenn wir kein Fleisch, Kohlenhydrate und Soßen bekommen… Wir Iraker brauchen täglich Fleisch.“
Der etwas Dickere umfasst seinen Bauch und sagt grinsend: „Hier steckt eine Menge Geld drin“, die anderen lachen.
„Dann scheint es dir ja noch recht gut zu gehen“, sage ich scherzend und zeige dabei auf seinen Bauch.
„Ist das dein Ernst? Schau her.“ Er zeigt mir seinen Hosenbund, den er an den Seiten um ein paar Zentimeter gefaltet und zusammengenäht hat. „Das was übrig ist wird nicht mehr lange ausreichen.“ Alle lachen über die Situation. Der aufgebrachte Iraker ergreift erneut das Wort und sagt:
„Das Bisschen, was es hier gibt, davon werden wir nicht satt. Das Essen hier, davon würde nicht mal ein Hund essen. Wir leben hier wie Tiere im Wald. Überhaupt scheint es überall nur noch von Tieren zu wimmeln. Hier sind es die Mazedonier und bei uns sind es die ganzen Milizen, die sich nicht von Tieren unterscheiden. Wir sind nach Europa gekommen, um endlich unsere Ruhe zu haben. Wären wir dort geblieben, hätte Daesch (IS) uns getötet. Aber so hätten wir wenigstens unsere Ruhe gehabt. Wenn du Glück hast, dann kommst du ins Paradies. Aber selbst wenn du in die Hölle kommen solltest, so hättest du wenigstens deine Ruhe. Und hier? Hier geht es weder vor noch zurück. Bei Gott, wenn ich irgendwann mal einen Verantwortlichen hier finden würde, der würde was von mir zu hören bekommen.“
„Eine Schlange treibt ganze Familien hier in die Flucht und verbreitet Angst und Schrecken.“, ruft der dickere Iraker dazwischen.
Terror
Der Aufgebrachte redet weiter: „Wir haben alle schon mehrere Schlangen gesehen. Tag und Nacht kommen die raus. Wir sind Männer, wir können damit umgehen. Aber was ist mit den ganzen Kindern hier? Und die Frauen? Die bekommen doch Angst. Meine Frau schläft nachts nicht mehr. Sie findet erst ihre Ruhe wenn der Tag anbricht. Dann legt sie sich hin und schläft. Wir wollen von denen kein Geld. Wir wollen weder Studienplätze noch Autos noch Häuser. Wir wollen nur einen sicheren Platz, an dem wir essen, schlafen und leben können. Wer hat überhaupt den Terror in unser Land gebracht? Los frag mich: wer hat den Terror zu uns gebracht?“, noch immer aufgebracht, schaut er mich fragend an, bevor er selbst antwortet: „Sie haben den Terror zu uns gebracht. Wer kämpft dort bei uns? Wer sind die Daesch-Kämpfer? Sind das Iraker oder Syrer? Nein, das sind weder Iraker noch Syrer. Das sind größtenteils Ausländer, die dort kämpfen, die die Menschen töten. Und was ist mit den Milizen? Was sind das für Schiiten? Das sind nicht unsere Schiiten, zumindest nicht die irakischen Schiiten. Das sind Schiiten aus dem Iran, Schiiten aus Afghanistan und Schiiten aus Pakistan.
Wir Iraker, egal ob Schiite, Sunnite, Turkmane oder Kurde, niemand von uns ist in Sicherheit. Uns allen geht es dort schlecht. Die aus dem Norden bleiben im Norden. Ich aus Ramadi schaffe es nicht mal bis nach Bagdad. Mir würden die direkt den Kopf abschneiden.“
„Wer würde dir den Kopf abschlagen?“, frage ich.
„Die schiitischen Milizen. Und wenn ich in Ramadi bleibe tötet mich Daesch.“
„Das heißt du bist Sunnite?“
„Ja, ich bin Sunnite.“
„Und dich würden sowohl die schiitischen Milizen als auch Daesch töten?“
„Ja, beide würden mich töten.“
„Warum? Was haben sie davon?“
„Wenn die Milizen deine Region erobern und dich als jungen Mann dort vorfinden, dann bist du in deren Augen ein potenzieller Unterstützer von Daesch, denn du bist im Einflussgebiet von Daesch. Und auch wenn du nicht in deren Einflussgebiet bist, steht in deinem Personalausweis, dass du Sunnite bist. Dann töten die dich auch ohne zu zögern. Egal was ist, in deren Augen, sind wir alle Terroristen.“
„Aber sind es dann nicht ihre Milizen, die Terror verbreiten?“
„Ja, aber nicht alle Schiiten sind in Milizen. Es sind vor allem die, die durch den Iran unterstützt werden. Zum Beispiel die Milizen von Moqtada As-Sadr, die Milizen von Hassan Nasrallah, der im Libanon lebt und im Irak gegen die Sunniten kämpft. Dann ist da die Miliz von Al-Khaszali und die von Al-Battat und was weiß ich wie die alle heißen. Massenweise sind sie dort. 42 Milizen, alle sind sie dort um Sunniten zu töten. Würde ich mich auf den Weg nach Bagdad machen, sie würde mich allein wegen meiner Zugehörigkeit umbringen.“
Die Schlepper
„Wie bist du aus dem Al-Anbar hierhergekommen?“
„Mit Schleppern, überall.“
„Bist du durch Gebiete der Milizen gekommen?“
„Nein, nicht durch Gebiete der Milizen sondern durch die von Daesch.“
„Aber du sagtest doch, dass Daesch dich auch töten würde.“
„Wenn Daesch dich und einen Schlepper erwischen würden, dann würden sie dich und den Schlepper töten.“
„Bezahlen Schlepper dann Schutzgelder an Daesch?“
„Nein, die Leute von Daesch kennen da kein Pardon.“
„Hast du viel an Schlepper bezahlt?“
„Ja sehr viel. Wir sind über Falloudja, von da nach Jabha, dann nach Hsiba, Majadin, Mimbaj, Aazaz, Khirbat Al-Jouz. Dann in die Türkei, Antakia, Douzia, Izmir und von dort nach Griechenland. Das war die reinste Tortur.“
„Wieviel Geld hast du für den Weg ausgegeben?“
„Bis jetzt habe ich 14 Tausend Dollar für mich, meine Frau und einen meiner Brüder, ausgegeben. Das beinhaltet alles: Essen, Trinken und Schlepperkosten. Ich habe dafür mein Auto verkauft und den gesamten Verkaufspreis dafür ausgegeben. Nichts bleibt uns mehr. Weder das Auto noch das Studium, alles ist weg.“
„Was hast du zuvor im Irak gemacht?“
„Ich war Student an der Universität im Fach Wirtschaft und Verwaltung. Nebenbei habe ich als Taxifahrer gearbeitet. Hier sitze ich jetzt arbeitslos und gefangen herum und habe kein Geld mehr. Und auch wenn das griechische Volk sehr großzügig ist und versucht uns zu helfen, so ist das Leben, was wir leben, nicht mal ein Prozent von dem Leben wert, dass wir im Irak hatten bevor Daesch erschienen ist.“
„Darf ich fragen, warum du selber nicht gegen Daesch gekämpft hast.“
Daesch
„Daesch? Wie sollen wir gegen Daesch kämpfen? Die werden durch ganze Staaten unterstützt. Es sind die Sahouat, die gegen Daesch kämpfen. Sie werden durch die Großfamilien finanziert. Jede Familie stellt eine bestimmte Anzahl an Kämpfern, die die eigene Region verteidigen. Aber diese Sahouat werden sowohl von den schiitischen Milizen bekämpft als auch von Daesch. Und am Ende sind die einfachen Menschen die Opfer, während die gesamte Welt Daesch unterstützt. Aus den europäischen Ländern kommen die Kämpfer. Die ganzen Daesch-Kämpfer kommen aus Ländern der Europäischen Union. Da gibt es Franzosen, Deutsche, Amerikaner. Die erobern ganze Länder. Denen bin weder ich noch du gewachsen. Könntest du ein Land einfach so stürmen? Du hast dein Handy und nimmst uns hier auf und versuchst unsere Stimme in die Welt zu bringen. Mehr kannst du nicht erreichen. Daesch dagegen hat Möglichkeiten, vergleichbar mit denen von Staaten.“
Die Geburt
Er erzählt mir, dass in den zwei Monaten, die sie Idomeni waren, sein Sohn zur Welt gekommen ist. Ich frage: „Wie war die Geburt hier?“
„Das war vor 20 Tagen. Meine Frau hat das Fruchtwasser verloren und dann haben wir sie in einem Krankenwagen ins Krankenhaus in Thessaloniki gebracht.“
„Wie waren die Leute dort zu euch. Wie waren die Ärzte?“
„Sie waren sehr nett zu uns. Normalerweise werden die Flüchtlinge in Kilkis behandelt. Das ist hier in der Nähe. Sie sagten uns aber, dass es bei meiner Frau länger dauern würde und sie uns deshalb nach Thessaloniki fahren werden, weil die Ausstattung dort auch besser ist. 20 Minuten, nachdem wir angekommen sind hat sie entbunden. Das war knapp.“, er lacht erleichtert. Seine anfängliche Wut hat sich nun gelegt. Seine Stimme ist nun wesentlich sanfter geworden.
„Wie geht es ihr jetzt?“
„Das Kind war ein paar Wochen zu früh da. Sie haben es dort behalten und seit über 20 Tagen haben wir es nicht mehr gesehen.“
„Warum geht ihr es nicht besuchen?“
„Wir können uns den Weg hin und zurück nicht leisten.“
„Was sagt deine Frau dazu?“
„Was soll sie schon dazu sagen? Manchmal sitzt sie alleine in ihrem Zelt und weint. Ich versuche, sie dann zu beruhigen indem ich ihr sage, dass wir ihn wahrscheinlich morgen abholen können. Am nächsten Tag sage ich ihr dann, dass wir ihn übermorgen abholen können. Ich lüge sie an, so wie die Ärzte mich anlügen. Ich habe keine andere Möglichkeit. Ihm geht es da ja gut. Für seine Gesundheit ist das besser. Sie haben uns gesagt, dass er jetzt aus dem Brutkasten ist und dass wir ihn in den nächsten Tagen abholen können.“ Er klingt betrübt und wir reden weiter über Kinder und gehen dann gemeinsam zu seinem Zelt, wo er mir seine Frau vorstellt. Diese habe ich ein paar Tage zuvor bereits einmal gesehen, als ich mit einem Arzt unterwegs war. An dem Tag klagte sie über Nierenschmerzen.
Die Flucht
Wir unterhalten uns ein bisschen. Irgendwann kommt das Gespräch auf die Überfahrt: „Das war ein sehr schwieriges und beängstigendes Erlebnis. Das Boot kam gerade mal in Schrittgeschwindigkeit voran. Der Steuermann traute sich nicht schneller zu fahren. Der Mann, der den Weg per GPS weisen sollte, hatte keine Ahnung und wir kamen von der Route ab. Ich schickte ständig meine Position an eine Gruppe, die mir sagte, dass wir abdrifteten. Zwei Stunden lang irrten wir im Meer umher. Die Wellen waren sehr hoch und die Frauen schrien und weinten. Meine Frau war im sechsten Monat schwanger. Ich übernahm das Kommando und wies dem Steuermann den Weg. Gott sei Dank erreichten wir dann auch bald die Küste.“
„Das Meer war nicht mal das schlimmste.“, sagt seine Frau. „Da war noch der Schlepperweg aus der Al-Anbar-Region raus.“, sagte sie und schaute ihren Mann an, als würde sie ihn auffordern von dieser Episode zu erzählen.
„Was war da?“, frage ich nach.
„Sie musste mitten in der Nacht 15 km durch das Gebiet von Daesch laufen und das obwohl sie schwanger war. Der Schlepper nahm uns in einer Gruppe von 40 Menschen mit und durchquerte ein Wüstengebiet. Gegen zwei Uhr nachts erreichten wir eine Gegend, nicht weit von der Freien Syrischen Armee entfernt. Wir befanden uns also auf umkämpften Gebiet. Auf der einen Seite Daesch, auf der anderen Seite die FSA und über uns warfen die Russen ihre Bomben ab. Die Schlepper erzählten uns, dass sich zwei Tage zuvor 62 Flüchtlinge in einem verlassenen Gebäude über Nacht versteckt haben, um bei Tageslicht in das Gebiet der FSA zu gehen.“
„Warum wollten die dorthin? Ist es dort sicherer?“
„Wenn du nachts zu denen gehst, dann denken die, dass du von Daesch bist und schießen auf dich. Deshalb warten die Menschen bis morgens und machen sich dann auf den Weg.“
„Wie sind die Leute von der Freien Syrischen Armee zu euch?“
„Bei der FSA hast du das Gefühl, dass das Menschen sind, wahre Muslime, sie empfangen dich mit Respekt.“
„Sie haben euch kein Geld abgenommen?“
„Nein, nein, sie haben uns nichts abgenommen. Im Gegenteil, sie haben uns freundlich empfangen. Auch weil wir unterdrückte Sunniten aus dem Irak sind und noch dazu unter Daesch leiden. Die FSA bekämpft ja auch Daesch.“
Er kommt wieder auf die 62 Flüchtlinge zurück, die sich über Nacht versteckt hatten: „Es war eine sehr kalte Nacht, also zündeten sie ein Lagerfeuer an. Das konnte man von draußen sehen. Sie wurden bombardiert und niemand überlebte es.“
In diesem Moment betritt ein junges Mädchen das Zelt und fragt die Frau, ob ihr Kind denn schon gekommen wäre.
„Nein, noch nicht.“, antwortet sie.
„Wie empfindest du die Trennung von deinem Kind?“
„Ich frage jeden Tag, wann ich ihn sehen kann.“, sagt sie und lächelt verlegen, schaut auf den Zeltboden und schweigt.
„Manchmal weint sie und ich versuche sie dann zu beruhigen.“. Wieder herrscht ein Augenblick Ruhe.
„Sie haben uns nicht mal mitgenommen, damit wir ihn sehen können.“, sagt sie bedrückt.
„Habt ihr sie denn gefragt, ob sie euch hinbringen können?“
„Ja wir haben sie gefragt“, sagen beide fast gleichzeitig.
„Wen habt ihr gefragt?“
„Ärzte ohne Grenzen. Wir haben ihnen gesagt, lasst uns unser Kind besuchen. Sie sagten uns, dass sie uns hinfahren können, wir aber die Rückfahrt selber bezahlen müssen. Uns blieb aber kein Geld mehr. Als sie nach der Geburt aus dem Krankenhaus entlassen wurde, mussten wir den Weg zurück von Thessaloniki selber bezahlen. Dafür habe ich unser letztes Geld ausgegeben.“
Abreise
Der Tag näherte sich seinem Ende. Ich ging mit anderen Helfern zu einer unabhängigen mobilen Klinik und gab dort alle übriggebliebenen Spenden und Medikamente ab. Als ich Richtung Auto gehe rennt mir ein kleines Mädchen hinterher und schenkt mir zwei Weizenähren. Es ging dem Kind wahrscheinlich nicht darum, was sie mir schenkte, sondern einfach das sie was schenkte. Ich kannte dieses Spiel von meiner kleinen Tochter. Und dennoch fragte ich mich nach deren symbolischen Bedeutung. Später erfuhr ich, dass die Kornähre für Vergebung steht.
Um Vergebung sollten wir diese Menschen anflehen, doch sie verschenken sie einfach.
Ich fuhr noch mal ins Parkhotel und verabschiedete mich von Aslam und anderen Helfern vom Verein Heimatstern, die gerade in Idomeni angekommen sind, bevor ich mich auf den Weg nach Thessaloniki machte. Mein Flug ging am nächsten Tag in der Früh.
Zurück ließ ich das Elend.
Wie immer, sehr beeindruckend wiedergegeben, es stimmt mich jedesmal sehr traurig, da es mir durch Dein Erzählen vorkommt, ich wäre mitten drinnen im Geschehen!
Vielen Dank !
Mit jedem weiteren Satz hofft man auf ein gutes Ende und weiß doch, dass es nicht kommt … ich konnte nicht aufhören zu lesen!
Nein im Moment wird es leider nur schlimmer.
Beeindruckende Berichte, die Sie schreiben.
Ich hoffe, dass sie nach außen Wirkung zeigen.