OEZ Prozess – Ein Verhandlungstag

Vor kurzem erzählte mir jemand von dem Verfahren gegen den Waffenhändler, der dem Mörder im OEZ Massaker die Tatwaffe verkauft hatte. Ich erfuhr auch, dass die Familien enttäuscht über das geringe Interesse der Öffentlichkeit waren. Da ich noch nie in einem Gerichtsaal war, hatte ich mir bisher auch nie Gedanken über die Rolle des Publikums gemacht. Ich entschloss mich also, an einer Verhandlung als Zuschauer teilzunehmen.

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Am Freitag, den 6. Oktober versuchte ich es das erste Mal, da der Saal jedoch gefüllt war, kam ich nicht mehr rein. Für Zuschauer waren lediglich 20 Plätze reserviert. Ich war nicht der einzige, der wieder gehen musste.

Ich versuchte es also diese Woche erneut und kam diesmal eine halbe Stunde früher. Vor dem Verhandlungsaal wurden alle durchsucht. Meine Tasche musste ich abgeben, da ich einen Computer dabei hatte.

Ich setzte mich auf eine der hinteren Reihen, die für Zuschauer vorgesehen sind.

Nach und nach füllte sich der Saal. Schnell waren alle 20 Plätze belegt. Die 20 für die Presse reservierten Plätze blieben größtenteils frei. Wie ich später erfuhr, waren lediglich 2 oder 3 Pressevertreter anwesend. Die übrigen Plätze wurden schließlich auch an Zuschauer vergeben.

Auch die Anwälte der Anklage, die Kläger und Nebenkläger und deren Anwälte nahmen Platz. Als der Angeklagte hereinkam bin ich von seiner Erscheinung überrascht. Ein junger Mann in schwarzer Hose und grünem, kurzärmligen Hemd, einer dicken Brille und gepflegten Haaren. Ich schaue ihn lange an und versuch mir vorzustellen, wie ein solcher Mensch Waffen über das Darknet an einen jungen hasserfüllten Menschen verkaufen kann. Erwartet habe ich einen glatzköpfigen, tätowieren Muskelmann. Der Angeklagte nimmt neben seinem Anwalt Platz. Auf der gleichen Seite nehmen die beiden Staatsanwälte Platz.

Als schließlich auch der vorsitzende Richter, Berufsrichter und Schöffen herein kommen erheben sich alle und nehmen dann wieder Platz.

Die Stimmung ist geladen. Der Anwalt der Anklage beschwert sich über den kleinen Saal und das seine Mandanten nicht genug Platz haben. Zwei der Nebenkläger mussten auf den Besucherreihen platziert werden. Ein Kläger sitzt an einem „Katzentisch“. Dann kommt noch das Problem mit der Platzierung der Dolmetscher.

Ich schätze den Raum auf 18 mal 9 Meter und zähle mindestens 89 Personen. Betrachtet man nun all die Tische im Raum, kann man sich vorstellen, wie überfüllt der Raum war.

Aufgrund des Durcheinanders ordnet der vorsitzende Richter eine Unterbrechung von 30 Minuten an. Alle werden aufgefordert den Raum zu verlassen, Zuschauer, Anwälte und auch die Familien der Opfer.

Gemeinsam warten wir vor der Tür. Die meisten stehen, nur eine Handvoll Stühle stehen zur Verfügung. Ich stelle mich zu einem Bekannten und wir unterhalten uns über die Situation. Neben ihm steht ein junger Mann. Es ist einer der Nebenkläger, der bei den Zuschauern Platz nehmen musste. Er ist zwanzig und sollte eigentlich in der Ausbildung sein. Ich frage mich, ob er einen Bruder oder eine Schwester verloren hat, wage jedoch zunächst nicht zu fragen. Ich überwinde mich und frage dennoch: wen hast du verloren?

„Meine Mutter“, sagt er und schaut mich mit traurigen Augen an.

Mir stockt der Atem. Ich bin einen Moment sprachlos. „Mein Beileid, es tut mir leid“, murmle ich. Nach ein paar Minuten unterhalten wir uns über seine Ausbildung, eigentlich wollte er nicht kommen. Als er erfuhr, dass der Angeklagte anwesend war, änderte er jedoch seine Meinung.

Die Unterbrechung dauert schließlich ganze 40 Minuten. Der Vorsitzende geht eine Anwesenheitsliste durch und erteilt dem Anwalt der Anklage das Wort. Dieser beginnt damit, einen Befangenheitsantrag gegen die Richter vorzutragen. Beanstandet wird der Umgang mit Zeugen und die nicht Berücksichtigung von Zeugenaussagen, ebenso wie die Räumlichkeiten. Da der Antrag sehr lang ist, wechselt er sich mit einer Kollegin ab. Gemeinsam lesen sie über eine halbe Stunde, im Hintergrund hört man die Dolmetscher. Als sie fertig sind, ruft eine ältere Dame aus der Zuschauerreihe: „Bravo“ und beginnt zu klatschen. Das gesamte Publikum klatscht mit.

Der vorsitzende Richter weist darauf hin, dass es kein Theater ist, sondern ein Gericht und dass von Zwischenrufen und Klatschen abzusehen ist. Aufgebracht sagt die alte Dame: „Ich darf das, ich bin die Großmutter eines dieser Kinder.“ Wieder stockt mir der Atem.

Der Anwalt reicht dem Richter zur Einsicht nun die Geburtsurkunde eines neuen Nebenklägers. Der Vorsitzende buchstabiert den Namen. Der Anwalt protestiert und sagt „Nun buchstabieren sie nicht noch den Namen, ich reiche Ihnen die Namen mit Absicht, um meine Mandanten zu schützen, vor der Öffentlichkeit und vor den Nazis.“ Als er „Nazis“ sagt, schaut der Anwalt in Richtung des Angeklagten. Der Anwalt des Angeklagten erhebt sich und sagt aufbrausend: „Na hören sie mal. Das lass ich mir nicht bieten. Ich erwarte eine Entschuldigung. Sie können mich nicht als Nazi bezeichnen.“

Der Anwalt der Anklage sagt, dass er doch nicht über ihn sprach und fügt dann mit einer Prise Sarkasmus hinzu: „Wenn Sie, Herr Anwalt, sich angesprochen fühlen, dann sollten Sie sich ernsthafte Gedanken machen.“

Als Nächstes kündigt der Anwalt die Stellungnahme der Mutter eines Opfers an. Vorsitzender Richter sowie Staatsanwalt, wollen die Stellungnahme zurückstellen, wegen des Befangenheitsantrags. Die Anklage besteht darauf, da die Mutter seit dem Mord an ihrem Kind unter gesundheitlichen Problemen leider und nur selten in der Verfassung ist an einer Verhandlung teilzunehmen. Das Wort wird nach 5 Minuten Pause der Mutter erteilt.

Die Mutter redet auf Türkisch. Ich schätze sie auf Anfang vierzig. Eine Dolmetscherin übersetzt ins Deutsche. Mit zunächst gefasster Stimme wendet sie sich an den Richter und fragt, ob er Kinder hat. Sie wünscht niemandem sein Kind vor sich sterben zu sehen. Dann prangert sie das Gericht und die vorsitzenden Richter an. Sie wirft ihnen vor, die rechte Gesinnung der Angeklagten und des Täters vertuschen zu wollen und stellt fest: „Was für ein Zufall, dass es alles nur ausländische Kinder waren“. Ich selbst muss an die NSU-Morde denken, die zunächst als Döner-Morde bezeichnet wurden.

Ihre Stimme wird lauter. Sie erhebt sich und zeigt mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den angeklagten Waffenhändler und sagt: „Du hast mich von meinem Kind getrennt.“ Sie hofft, dass er bestraft wird, sonst wird sie es tun. Mit eigenen Händen. Sie würde ihn töten, droht sie aufgewühlt. Es ist die Drohung einer gebrochenen und verzweifelten Mutter.

Der Staatsanwalt versucht etwas zu sagen, doch auch er wird von der aufgebrachten Mutter angeschrien und beschuldigt nicht an der Aufklärung der wahren Hintergründe interessiert zu sein. Immer aufgewühlter schreit sie. Ihr Mann versucht sie zu beruhigen, doch sie reißt sich los und stürmt fluchend aus dem Saal. Später erklärt ihr Anwalt, sie habe einen Nervenzusammenbruch erlitten und sie würde an diesem Tag nicht weiter an den Verhandlungen teilnehmen können. Bedrückt schweigen die Anwesenden.

Der vorsitzende Richter ordnet erneut fünf Minuten Pause an. Während der Pause verlasse ich den Saal nicht. Ich beobachte, wie ein Anwalt eines Nebenklägers sich mit jemandem unterhält und dann schallend lacht. Ich empfinde dieses Lachen als unangebracht vor allem angesichts der Familien der Opfer und frage mich, ob ich mir vielleicht zu viel Gedanken mache. Als der Anwalt erneut laut lacht, höre ich die alte Dame, die zuvor eine Auseinandersetzung mit dem Richter hatte, ihre Sitznachbarin erbost fragen: „Warum lacht der hier? Schämt der sich nicht?“

Ein Mann aus den Zuschauerreihen erhebt sich und ruft laut: „Entschuldigung Herr Anwalt. Ja Sie dort. Sie haben hier mehrmals laut gelacht. Können Sie das bitte unterlassen. Ein wenig Respekt bitte.“

Der Anwalt schaut den Mann kurz an, antwortet aber nicht und schaut dann weg. Er führt seine Unterhaltung weiter, lacht jedoch nicht mehr.

Nach der Pause bittet der Anwalt des Angeklagten die Sitzung aufgrund der emotionsgeladenen Situation zu vertagen. Er drückt Verständnis für die Gefühle der Angehörigen aus, beschwert sich jedoch erneut, dass er angeblich als Nazi beschimpft wurde. Es kommt zu einem kurzen Geplänkel zwischen ihm und dem Anwalt der Anklage.

Der Richter zieht sich erneut für 5 Minuten zurück und vertagt dann die Sitzung und kündigt gleichzeitig an, dass der nächste angesetzte Termin ausgesetzt wird, da zunächst über die Befangenheitsanträge entschieden werden muss.

Für den Termin am 23. Oktober verspricht der Richter des Weiteren, dass das Gericht sich um einen größeren Saal bemühen wird.

Ich verlasse das Gericht an der Nymphenburgerstraße und komme an den Familien vorbei. Ich überlege, ob ich ihnen noch mein Beileid ausdrücken soll, verwerfe den Gedanken dann aber wieder. Irgendwie fehlte mir der Mut. Ich erinnere mich an die Zeit, als Ende 2015 all die Syrer bei uns ankamen und ich wusste, dass die meisten enge Verwandte im Krieg oder auf dem Meer verloren haben. Ein ähnliches Gefühl der Ohnmacht überkam mich. Doch diesmal war es anders. Diesmal geschah es nicht in einem fernen Land oder auf offenem Meer. Diesmal passierte es in unserer Stadt. In München. Vor unseren Augen und gleich bei uns um die Ecke. Mein Büro liegt eine U-Bahn-Station vom Olympia Einkaufszentrum entfernt.

Am 22. Juli 2016 starben in München neun Menschen. Ein rechtsradikaler Hintergrund scheint sehr wahrscheinlich. Unabhängige wissenschaftliche Gutachten haben dies festgestellt. Die Behörden versuchen den Mörder bis heute vor allem als Mobbing-Opfer darzustellen und das Interesse in der Öffentlichkeit an diesem Verfahren bleibt sehr gering.

Warum nur?

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11 Gedanken zu „OEZ Prozess – Ein Verhandlungstag“

  1. Vielen Dank für diesen ausführlichen Bericht von dem Tag, an dem ich auch anwesend war.

    Für mich war es der erste Tag, an dem der Saal so voll war. Ich war im September an 4-5 Verhandlungstagen dort und war überrascht, dass sich so wenige Menschen dafür interessieren. Es waren meist nur an die 5-8 Zuschauer und 2-3 Pressevertreter vor Ort.

    Ich wundere mich sofern, da dieses schreckliche Ereignis unsere ganze Stadt in einen Schockzustand versetzt hatte und damit mehrere 100.000 Menschen direkt betroffen hatte und dennoch die meisten nach kurzer Zeit das Ganze für sich abgehakt hatten.

    Ich bin froh, dass nun mehr Menschen Anteil nehmen, auch wenn es dafür erst einen Aufruf benötigt hat.

    Dieses Ereignis hat nicht „nur“ diese 9 unschuldigen Opfer gefordert, sondern das Leben von Hunderten zerstört, denn es bleibt an all den Verwandten, Freunden, Schul- und Arbeitskollegen, Sportfreunden, Nachbarn usw. für immer hängen und beeinflusst ihr Leben für immer. Dies wurde mit der Ansprache der Mutter noch einmal so furchtbar deutlich, dass es mich und andere nochmal so tief getroffen hat, dass viele von uns weinen mussten und wir dennoch ihren Schmerz niemals auch nur annähernd spüren müssen.

    Es wäre notwendig, dass das Gericht zumindest an einer aufrichtigen Aufklärung interessiert wäre, doch diesen Anschein macht es nicht und das ist erneut ein harter Schlag in das Gesicht und Herz aller Betroffenen.

    Möge es diesen Menschen irgendwann möglich sein, damit in irgendeiner Form weiterleben zu können und ihren Frieden damit zu machen.

    Danke

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    • Danke für Ihren Kommentar. Ich glaube das mehr Menschen Anteil an dem Schicksal nehmen würden, würden Medien mehr drüber berichten. Viele kommen auch einfach nicht auf sie Idee, selbst an einer Verhandlung teilzunehmen. Ich selbst war auch das erste Mal dort. Unabhängig, von einer Teilnahme, glaube ich auch, dass viele Menschen an die Opfer denken. Mir geht es zumindest jedes Mal so, wenn ich am OEZ vorbeikomme.

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  2. Sehr gut erklärt und protokolliert.Auch ich war anwesend an diesem Tag im Gericht.Ich saß fast neben Ihnen und habe gesehen das Sie Notizen gemacht haben.Es war eine sehr emotionale Gerichtsverhandlung.Auch ich war sehr gerührt von dieser Gerichtsverhandlung.Es ist für uns Münchner ein tragischer Tag der 22.7.2016 es hätte uns alle treffen können.Der tragische Tag wo so viele unschuldige Menschen sterben müssten mitten im Zentrum München‘s.Habe zum ersten Mal an diesem Tag so viel Angst gespürt.So viele traurige Bilder gesehen.Sehe heute immer noch die Bilder in meinem Kopf.Wünsche allen Familien mein herzlichstes Beileid.Hoffe es gibt wenigstens ein fairen Prozess damit die Familien endlich abschließen können.Wenn das überhaupt zu schaffen ist da die Familien ihre liebsten nie wieder in die Arme nehmen können und immer mit diesem Verlust leben müssen.Vielen dank an Sie für diesen tollen Artikel.Sie haben es hervorragend in Worte gefasst.

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    • Danke. Natürlich gilt auch mein Mitgefühl den Familien und Angehörigen. Und auch wenn ich versuche mich in deren Situation zu versetzen, so glaube ich ist es mir nicht möglich deren Trauer nachzuempfinden. Und ich hoffe es niemals zu müssen.

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  3. Ich kann im Internet leider nicht die nächsten Termine für den Prozess finden. Ist der 23.10. ein festgesetzter Termin? Wurden die nächsten Termine danach noch nicht festgelegt? Weiß da jemand Bescheid? Ich würde gern auch als Zuschauer hingehen, habe aber online keine Termine gefunden.

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