Sonntag, der 01.11.2015.
In Dornach waren noch ca. 600 Gäste. Online waren keine weiteren Busse angekündigt. Ich verabredete mich mit einer Farsi-Dolmetscherin, um ein paar Gespräche mit Afghanen zu führen. Als ich in der Unterkunft ankam, hieß es plötzlich: „Karim, kannst du bitte die Ansage im Bus machen?“
An dem Abend kamen überraschenderweise doch wieder mehrere Busse an. Die meisten aus Freilassing. Von 19:00-1:00 Uhr machte ich die Ansagen im Bus und half bei der Aufnahme der Menschen. Die Ansage im Bus lautet ungefähr so:
„Seid gegrüßt und herzlich Willkommen in der Notunterkunft Dornach nahe München.
Dies ist eine Notunterkunft. Hier könnt ihr essen, trinken, euch waschen und schlafen. Es gibt hier eine medizinische Notversorgung. Ihr werdet hier weder registriert, noch müsst ihr Fingerabdrücke abgeben. Es gibt hier keine Simkarten und keine Informationen zu Asylverfahren. Diese Notunterkunft dient nur zur Erholung. Ihr werdet hier einen, höchstens zwei Tage bleiben, dann werdet ihr weiter verteilt.
Bitte achtet auf die Sauberkeit und Ordnung in der Unterkunft. Bitte respektiert jeden, der hier tätig ist. In der Unterkunft ist das Rauchen verboten.
Eure Taschen werden am Eingang durchsucht. Bitte unterstützt uns und öffnet eure Taschen.“
Das Gleiche wird dann meistens nochmal für die Afghanen und Iraner auf Farsi gesagt. Einmal musste ich die Ansage auch noch auf Französisch für eine Gruppe von Malier machen.
Mit Afghanen habe ich an diesem Tag nicht reden können. Hier die wenigen Begegnungen, die ich an diesem Abend hatte.
Begegnung 1
Eine Gruppe von sieben jungen Männern kommt mit einem Bus an. Einer unter ihnen fragt mich, ob sie am nächsten Tag weiter ziehen können. An seinem Akzent merke ich, dass er ein Marokkaner ist. Ich frage ihn: „Seid ihr alle Marokkaner?“
„Es sind auch ein paar Algerier unter uns.“
„Wo kommt ihr her?“
„Das ist eine lange Geschichte.“, sagt er und grinst. „Wir kommen über die Türkei. Von dort sind wir nach Griechenland und im Anschluss sind wir hier her gereist.“
„Aber warum?“
„Wir dachten uns, wir kommen mit der Masse der Syrer her. Wir haben sogar ein syrisches Dokument. Wir hatten Angst, dass man uns an der Grenze abschiebt. Sie haben uns aber Gott sei Dank hineingelassen.“
Ich erkläre ihm, dass das eigentliche Asylverfahren noch bevorsteht und dass man sie dann höchstwahrscheinlich als Marokkaner entlarven wird. Dort ist nämlich auch ein Dolmetscher anwesend. Sein marokkanischer Akzent ist so ausgeprägt, dass er niemals als Syrer durchgehen würde.
Es war ihm nicht bewusst, dass es ein solches Verfahren gibt. Nachdem ich ihm das erzähle, schien er sehr verunsichert zu sein. Später merke ich auch noch, dass er Berber ist und selbst sein Arabisch etwas abgehackt ist.
Begegnung 2
Ein irakischer Mann mit seiner Frau und drei kleinen Kindern kommen mit dem Bus an. Sie kommen ebenfalls von der deutsch-österreichischen Grenze. Die Kinder sind erschöpft. Das Kleinste ist zwei Jahre alt und weint. Ich frage ihn, ob das Kind krank ist. Er antwortet: „Nein, es ist einfach nur erschöpft. Wir sind seit 20 Tagen unterwegs, ohne jemals richtig geschlafen zu haben. Wir hatten keinen Schlaf und kaum zu essen.“
Einige Zeit später werde ich zur Zimmervergabe gerufen. Der Iraker kommt mir, mit seinem kleinen, heulenden Sohn auf dem Arm, aufgebracht entgegen. Er versteht nicht, wieso dem Kleinem auch ein Bändchen um den Arm geklebt werden soll. Ich beruhige den Mann und erkläre ihm, dass auf dem Bändchen die Raumzugehörigkeit steht und schlage vor, es um den Knöchel des Jungen zu kleben.
Der Mann war so aufgebracht, da ihm mitgeteilt wurde, es wäre ein „Gesetz“, das ihn dazu verpflichtet, ein solches Bändchen zu tragen.
„An der Grenze haben wir auch solche Bändchen bekommen. Die Polizei hat das Bändchen von dem Kleinen seiner Mutter gegeben. Wenn die Polizei das so handhabt, dann kann das kein Gesetz sein! Der kleine weint und wird das Bändchen nicht akzeptieren.“, sagt er aufgeregt.
Ich erkläre ihm, dass das Wort „Gesetz“ unglücklich gewählt ist. Es handelt sich eher um Regeln aus der Hausordnung, die jeder akzeptieren muss.
Der Kompromiss, das Bändchen um den Knöchel zu binden, beruhigt ihn. Nach einem kurzen Gespräch wird ihm und seiner Familie ein Zimmer zugewiesen.
Später treffe ich den Mann mit seiner Familie beim Essen wieder. Er hat sich sichtlich entspannt. Auch die Kinder weinen nicht mehr und essen fröhlich Toastbrot mit Marmelade und trinken dazu Saft. Wir unterhalten uns nochmal ein bisschen über den Vorfall und ich sage zu ihm: „Du musst versuchen, dich in Deutschland zusammenzureißen. Ich weiß, dass wir Araber manchmal etwas laut werden, selbst wenn wir einfach nur diskutieren. Hier in Deutschland fühlen die Menschen sich aber schnell angegriffen. Dann werden sich die, die dir eigentlich helfen wollen, schnell von dir abwenden und du wirst alleine dastehen. Es ist nur ein Rat von mir. Es wird dir vieles einfacher machen in diesem Land.“
„Es tut mir Leid. Wir sind seit 20 tagen unterwegs und am Ende unserer Kräfte. Vorallem mit den Kindern. Und danke für deinen Rat. Ich werde ihn zu Herzen nehmen. Wir sind gerade in diesem Land angekommen und müssen noch viel lernen.“
Begegnung 3
Eine sehr korpulente Frau kommt mit einem der Busse an. Sie hat extrem geschwollene Beine und leidet unter Diabetes. Sie möchte kein Zimmer zugewiesen bekommen, da sie die Unterkunft wieder verlassen möchte. Sie fragt mich, ob sie einen Anruf mit meinem Handy tätigen kann. Sie möchte ihren Sohn anrufen, der bereits in Deutschland ist und sie abholen möchte. Während ich versuche, ihn zu erreichen, frage ich sie: „Woher kommst du?“
„Aus Er-Riqqa.“, sagt sie und schaut mich an als würde sie meine Reaktion beobachten.
Dann sagt sie: „Daech (IS), kennst du?“
Ich antworte: „Ja, Er-Riqqa ist deren Hauptstadt, richtig?“
Sie kneift die Lippen zusammen, hebt die Augenbrauchen vielsagend und sagt: „Ja, der Tod ist zwischen uns eingezogen. Wenn man es nicht mit eigenen Augen sieht, kann man das nicht glauben.“
Ich erreiche ihren Sohn. Sie telefoniert mit ihm und scheint glücklich zu sein. Er bittet mich, ihm per Whatsapp die Adresse der Unterkunft zu schicken.“
Ich begleite die Dame, die kaum laufen kann, bis zur Essensausgabe. Helfe ihr dabei, sich an einen Tisch zu setzen, bringe ihr eine Suppe, eine Scheibe Toastbrot und ein bisschen Konfitüre. Sie ist dankbar. Nach dem Essen begibt sie sich zum Eingang und wartet im Empfangsbereich auf ihren Sohn.
Begegnung 4
Während ich mich in der Essensausgabe aufhalte, kommt ein junger Mann auf mich zu. Er fragt mich, ob er ein paar Minuten mit mir reden kann. Wir gehen in eine ruhige Ecke und er erklärt mir sein Problem:
„Bruder, ich bin in einer Zwickmühle. Ich weiß nicht mehr weiter. Und wenn du mir weiterhelfen kannst, wäre ich dir wirklich sehr dankbar.“
„Worum geht es denn? Wie kann ich dir helfen?“, frage ich.
„Mir wurde in der Notunterkunft in Österreich mein Handy geklaut. Es wurde mir von dem Übersetzer geklaut. Ich konnte mich nichtmal beschweren, weil er der einzige Übersetzer war. All meine Telefonnummern und Kontakte sind weg. Ich bin auf dem Weg zu meinem Bruder nach Schweden, habe aber auch seine Nummer nicht mehr. Alles was ich habe, ist eine Festnetznummer in Al-Ladhiqiyah, die ich auswendig kann. Kannst du mir sagen, von wo ich ihn anrufen kann?“
Ich überlege einen Augenblick und sage dann: „OK, ich gebe dir mein Handy. Du machst es aber kurz. Eine Minute, mehr nicht.“ Er bedankt sich und schlägt vor, mich zu bezahlen. Ich lehne ab. Er sagt: „Menschen wie du sind selten.“ Ich sage: „Nein. Du irrst dich. Schau dir all die Menschen in den gelben Westen an. Sie sind alle freiwillige Helfer. Sie gehören weder der Regierung, noch einer Organisation an. Sie sind freiwillig und ohne Bezahlung hier. Viele von ihnen kommen fast jeden Tag für mehrere Stunden.“
Er schaut sich um und sagt in Gedanken versunken: „Ist es möglich, dass die Welt doch noch nicht so kaputt ist?“
Er schreibt mir die Nummer – ohne Landeswahl und ohne Vorwahl – in arabisch-indische Zahlen auf. Ich übersetze die Zahlen erst in modern-arabische Zahlen und suche dann im Internet nach den Vor- und Landeswahlen.
Als wir anrufen, ist die Leitung belegt. Es ist 1:00 Uhr in der Früh. Um diese Zeit telefoniert normalerweise niemand bei ihm. Er macht sich Sorgen. Ich kann nicht weiter helfen.
Später
Als ich gehen wollte, kommt ein Helfer auf mich zu und fragt: „Der Sohn der Frau, die im Empfangsbereich sitzt, ist gekommen. Was passiert nun mit ihnen?“
„Was soll schon passieren? Er wird sie mitnehmen.“, sage ich.
Erstaunt fragt er: „Einfach so?“
„Es hält sie niemand auf. Ich werde es nicht tun. Du?“, antworte ich.
Als ich im Empfang ankomme, sehe ich, wie die alte Frau ihren Sohn in den Armen hält und weint. Er küsst ihre Hände. Sie küsst seine Stirn. Dann legt er seinen Kopf auf ihre Brust. Nach einer Weile hilft er ihr, sich hinzusetzen. Er kniet sich vor ihr auf den Boden und legt seinen Kopf auf ihren Schoß. Sie flüstert ihm Worte zu und weint weiter. Ich stehe in der Tür, beobachte die Szene und verkneife mir die Tränen. Es ist ein traurig schönes Bild.
Dann bemerkt mich die alte Frau. Sie steht auf, kommt auf mich zu, breitet die Arme aus und sagt: „Gott segne dich, mein Sohn…“ Sie umarmt mich, küsst mich und hört nicht mehr auf, mir Gutes von Allah zu erbitten. Sie ist dankbar, weil ich ihrem Sohn den Weg vom Hauptbahnhof hierher erklärt habe. So viel Dankbarkeit für so wenig Aufwand.
Ich frage: „Wie lange habt ihr euch nicht gesehen?“
Der Sohn überlegt und sagt dann: „Ich bin ungefähr seit 8 Monaten hier.“
„Hat er Daech (IS) noch erlebt?“, frage ich seine Mutter.
Seine Mutter hebt verneinend den Kopf und die Augenbrauen. Sie sagt: „Nein, er hat sie nicht mehr erlebt. Ich habe ihn extra weggeschickt. Bevor sie kommen!“
„Hast du noch andere Kinder?“
„Nein, er ist mein Ein und Alles. Alles was ich besitze.“, sagt sie und schaut dabei auf ihren Sohn.
Als ich gehe, umarmt sie mich nochmal und sagt: „Allah bewahre dich für deine Mutter. Und Allah bewahre sie für dich.“
Auf dem Weg nach Hause muss ich an einen Spruch des Propheten denken, indem es heißt, dass Allah das Bittgebet eines Reisenden nicht zurückweist.
Möge Allah ihr Gebet erhören.
Lieber Karim,
bestimmt bist Du im alten Orient einer der Märchenerzähler gewesen. Du nimst die Leser mit in Deine Welt, ohne dass sie es merken. Ich könnte unendlich weiterlesen, auch wenn Deine Begegnungen mich immer weinen lassen – mal vor Kummer, mal vor Freude. Ja, und so ist auch das Leben!
Danke für Deine vielen Geschenke,
Helga
Lieber Karim,
es ist sehr schön und ergreifend zu lesen, was Du schreibst.
Herzlichst
Sebastian
Lieber Karim,
Vielen Dank für Deine Erzählungen. Du schreibst sehr einfühlsam und klug und es ist sehr bewegend, es zu lesen. Und es sollte von viel mehr Menschen in Deutschland gelesen werden. am besten täglich in einer Zeitung. Dann wird vielleicht klarer, dass es um Menschen „wie du und ich“ geht und nicht um „Ströme“ oder „Anzahlen“.
Assalamu alaikum,
danke für diese so wertvollen Berichte.
Irgendwann… wenn sich die Lage beruhigt, inschaAllah… solltest Du Deine Begegnungen in einem Buch zusammenfassen.
Shukran Karim, ich kann mich oft nicht viel mit den Mens her unterhalten. Deine Berichte sind für mich als freiwillige Helferin so wichtig. Ich wünsche wirklich allen Menschen die kommen, dass sie Ruhe finden und das Erlebte verarbeiten können.