Montag, der 10.11.2015.
Aeham Ahmad, der Pianist aus dem Yarmouk-Lager, der auch auf dem Danke-Konzert für Flüchtlingshelfer aufgetreten ist, war am Montag auf der TEDx in München. Ich schlug ihm vor, danach in der Unterkunft in der Denisstraße ein kleines Konzert zu organisieren. Ohne zu zögern, stimmte er zu. Auch die Helfer in der Denisstraße fanden die Idee super.
In diesem Artikel beschreibe ich diesen Tag. Daher unterscheidet er sich etwas von den bisherigen Texten.
Kurz bevor es losging, telefonierte ich noch mit Aeham. Ich erzählte ihm, dass David, ein befreundeter Helfer, mir sein E-Piano und einen Verstärker geliehen hatte.
„Hast du auch ein Mikrofon dabei?“, fragte er mich daraufhin.
„Oh, das habe ich vergessen. Aber im Yarmouk-Lager hattest du doch auch kein Mikrofon.“, antwortete ich, obwohl mir klar war, dass ein Mikrofon schon wichtig gewesen wäre.
„Im Yarmouk-Lager habe ich, wenn es viele waren, für 15 Kinder gesungen und nicht in einer Halle mit 150 Leuten.“
„Hab dich mal nicht so, im Yarmouk-Lager musstest du Bomben übertönen. Du bist es doch gewöhnt, laut zu singen.“, sage ich halb scherzend, halb trotzend. Manchmal fällt es schwer, Fehler zuzugeben.
„Du willst mir wohl meine Stimme kaputt machen!“
In letzter Minute versuchte ich noch, ein Mikrofon aufzutreiben. Jedoch vergeblich. Ich bin eben doch kein Eventmager.
***
Ein paar Helfer und ich bereiten ab 16 Uhr die Halle in der Notunterkunft für den Auftritt vor. Auch ein paar Flüchtlinge helfen uns dabei und stellen Bierbänke auf.
Aeham kam um 17:10 Uhr. Zwei junge Männer empfangen und grüßen ihn.
„Du bist aus Yarmouk?“, fragt der eine.
„Ja, ich habe dort in den zerstörten Straßen Klavier gespielt.“, erklärt Aeham.
„Ich erinnere mich! Wir sind auch aus Yarmouk.“, sagt der Erste. „Hast du dort nicht auch Falafel verkauft?“
Aeham lacht: „Ja genau, das habe ich. Ich habe sie aus Linsen gefertigt (normalerweise werden Falafel aus Kichererbsen hergestellt). Eine Frau fragte mich mal, warum meine Falafel so rot sind. Ich sagte ihr, dass es an den Gewürzen liegt.“ Er lachte und alle lachten mit ihm.
Einer der jungen Männer fragt mich: „Bist du auch aus Yarmouk?“
Ich grinse und sage: „Nein ich bin Tunesier, Deutsch-Tunesier.“
***
Die Männer stehen um Aeham herum und reden mit ihm. Sie reden über Papiere. Fragen ihn, wie lange er schon da ist. Er zeigt ihnen seine Registrierungspapiere. Sie erzählen, wie lange sie warten mussten und dass sie sogar mit Sitzstreiks begonnen haben. Jedoch hat sich die Situation wohl mittlerweile entspannt. Ich spüre das Mitteilungsbedürfnis, fühle aber auch, dass diese Unterhaltung kein Ende finden wird und schlage daher vor, dass er ersteinmal ein bisschen Musik spielen soll. Schließlich waren auch Frauen und Kinder anwesend, die nur aus diesem Grund gekommen sind.
Aeham spielt mehrere Lieder. Die Leute hören zu, klatschen und unterhalten sich. Doch als er sein Lied „Ruf der Völker“ singt, herrscht auf einmal Stille. Es ist das Lied, das er auch auf dem Danke-Konzert gesungen hat. Es handelt von Syrien, der Zerstörung, dem Leid und der Hoffnung.
Ich schaue in die Gesichter der Männer und Frauen und sehe, wie sie die Worte fühlen.
***
Dann tut er das, was er auch im Yarmouk-Lager in den letzten Jahren getan hat: Er singt für die Kinder. Sie sammeln sich um ihn herum und singen mit ihm. Sie schlagen ihm Lieder vor und stimmen sie an, während er sie mit dem Klavier begleitet. Es ist wunderbar, ihnen zuzusehen. Es ist der schönste Moment an diesem Abend. Zwischendurch beugt sich Aeham zu mir, zeigt auf einen kleinen dreijährigen Jungen und flüstert mir zu:
„Dieser kleine Junge macht mich verrückt. Er erinnert mich so sehr an meinen Sohn Ahmad. Ich sehe die ganze Zeit nur ihn.“, er versteckt kurz das Gesicht in seinen Händen und spielt dann weiter, als wäre nichts gewesen.
***
Aeham singt und immer wieder gesellt sich ein Mann oder ein Kind zu ihm, um mit ihm zu singen. Mittlerweile hat der Einsatzleiter der Helfer auch ein Megaphon besorgt. Es dient als Mikrofonersatz. Der Ton ist schrecklich. Doch es geht längst nicht mehr um den Gesang, sondern um die Stimmung. Ein Mann singt ein selbstkomponiertes Klagelied und Aeham improvisiert mit dem Klavier dazu. Dann entdeckt er einen Jungen, der ein paar Lieder kann und stellt diesen auf den Tisch. Der Junge scheint das Rampenlicht zu genießen und singt mehrere Lieder, während Aeham ihn mit dem Klavier begleitet. Die Kinder amüsieren sich, die Frauen klatschen und die Männer haben ihren Spaß.
Irgendwann verstummt das Klavier. Viele Zuschauer gehen und einige – vorallem junge Männer – bleiben und unterhalten sich mit Aeham.
„Ich bin auch Palästinenser aus Yarmouk. Wo genau kommst du her?“, fragt einer.
„Kennst du das Musikgeschäft in der Mansoura Straße?“
„Ja, das kenne ich.“
„Das war mein Geschäft.“, sagt er stolz, bevor er traurig hinzufügt: „Nun ist alles weg. Nichts ist uns geblieben“.
„Wie hast du es raus geschafft?“, fragt ein anderer junger Syrer aus Yarmouk.
„Ich habe gezahlt, wurde aber verhaftet. Neun Tage lang wurde ich in verschiedene Gefängnissen eingesperrt. Ich musste mich freikaufen.“, antwortet Aeham.
Ein Mann sagt: „Das Regime hält Niraz Saied, den Fotograph aus Yarmouk, seit eineinhalb Monaten wegen seinen Fotos in Gefangenschaft. Er ist im Fara‚ Falastin (Palästina-Abschnitt) gelandet.“
Alle schauen bedrückt, als der Name „Fara‚ Falastin“ fällt. Einer sagt leise: „Es ist vorbei mit ihm.“ Der Palästina-Abschnitt ist eine der schlimmsten Abteilungen des syrischen Geheimdienstes, in dem Menschen gefoltert werden. Die Folterungen führen oft zum Tod. Mir wurde schon von mehreren Flüchtlingen berichtet, dass, wenn man dort nach einem Monat nicht raus gekommen ist, mit ziemlicher Sicherheit bereits tot ist.
Niraz Saied war 2014 der Sieger eines durch die EU unterstützten Photographie Wettbewerbs der UNRWA.
***
Wir reden über das Danke-Konzert. Viele der heutigen Anwesenden waren dort.
Einer der Jungs aus Yarmouk sagt: „Ja, wir waren dabei. Mit Tränen. Du hast sehr schön gesungen!“
Ein anderer fügt hinzu: „Als du ‚Hier ist Yarmouk‘ sagtest, habe ich geweint. Das war ein unbeschreibliches Gefühl.“ Er holt sein Smartphone raus und zeigt stolz seine Videos von dem Konzert.
Sie tauschen mit Aeham Telefonnummern aus und reden davon, mit ihm eine Gesangsgruppe zu gründen und durch die Notunterkünfte in Deutschland zu ziehen, um für Flüchtlinge zu singen.
Als er gehen muss, besorgt der Einsatzleiter der Helfer noch ein paar Flaschen Wasser für den Weg. Ein Syrer sagt zu Aeham: „Sieht du den Helfer dort? Das ist ein Mann mit einem riesigen Herz. Er hat sich sehr für uns eingesetzt. Er ist der Beste!“
Ich schau ihm dankbar hinterher. Er ist auch Tunesier. Ein Landsmann.
Später am Telefon
Auf dem Weg zurück nach Kirchheim ruft mich Aeham nochmal an. Wir reden über die Veranstaltung und über ein paar andere Dinge. Dann sagt er traurig: „Ich muss die ganze Zeit an diesen kleinen Jungen denken. Er ähnelt Ahmad, meinem Sohn, so sehr. Ich will meine Kinder wieder bei mir haben.“ Meine Kinder sind bei mir, zu Hause, in Sicherheit. In diesem Moment weiß ich nicht, was ich sagen kann, um ihm Trost zu spenden.
Ahmad und sein kleiner Bruder Kinan sind mit dessen Mutter in Damaskus geblieben. Das Geld, das Aeham von seiner Mutter für die Reise bekam, reichte nicht aus, um gemeinsam zu flüchten. Deshalb kam er alleine, in der Hoffnung, sie später zu sich holen zu können.
An diesem Tag stand in den meisten deutschen Zeitungen, dass De Maizière plant, den Familiennachzug auszusetzen.
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