Donnerstag, der 18.02.2016.
Wir trafen uns diesmal um 21:30 Uhr in meinem Büro. Er brachte mir mehrere Unterlagen aus der Krankenakte von seiner Frau mit, von denen ich eine Fotokopie machte. Seit drei Monaten hofft er, dass sie in Deutschland behandelt werden kann, jedoch hat sich bis jetzt noch nichts getan.
Wir setzten uns und er führte seine Erzählung fort.
(Teil 1 seiner Erzählung ist hier nachzulesen)
Der Härtefall
Wir machten uns zunächst mit einem Taxi auf den Weg zum Grenzübergang von Bab El-Hawa. Dort erhielten wir in einem Krankenhaus – aufgrund der Verletzung meiner Frau – einen Härtefall-Schein, mit dem wir zum Grenzübergang gingen. Dieser wird durch die Freie Syrische Armee (FSA) verwaltet. Sie registrierten uns und sagten, dass wir in zwei Wochen wiederkommen sollen. Eigentlich hält die FSA die Menschen nicht davon ab, die Grenzen zu überqueren. Die Türkei akzeptiert jedoch pro Tag nur ein gewisses Kontingent an Schwerverletzten. Vor uns war eine große Zahl von Menschen, deren Verletzungen noch schwerer waren, als die meiner Frau.
Ich kannte einen irakischen Arzt, der zu dieser Zeit in der Türkei Urlaub machte. Er versprach, mir zu helfen. Würde ich zwei Wochen länger warten, würde ich ihn verpassen. Warten war also keine Option. Ich machte mich auf die Suche nach einem anderen Weg.
Der Fehlstart
Die Grenze zur Türkei ist sehr durchlässig. Versucht man, illegal über die Grenze zu kommen, ist es mit etwas Glück durchaus möglich. Wird man jedoch aufgegriffen, wird man schnell wieder nach Syrien zurückgebracht. Zu Wahlzeiten verhält es sich jedoch anders, denn da wird schon mal von den Grenzposten scharf geschossen. Wir hatten das Pech, dass gerade Wahlen waren, als wir uns auf den Weg machten.
Wir fuhren also nach Khirbet Al-Jouz; ein kleines Grenzdorf in der Nähe von Idlib. Dort suchte ich einen Schlepper, der pro Kopf 100 $ nahm. Bezahlt wird bei Ankunft auf türkischer Seite. Die Schlepper in der Gegend sind junge Männer, die sich per Handy abstimmen. Es sind Leute, die eine wichtige Arbeit machen. Ich kann ihnen keinen Vorwurf machen, obwohl 100 $ für uns viel Geld ist.
Mitten in der Nacht führten uns vier junge Männer zusammen mit 40 weiteren Flüchtlingen durch einen Wald Richtung türkischer Grenze. Sie gaben uns Zeichen, wenn wir gehen sollten und andere Zeichen, wenn wir stehen bleiben sollten. Sie kommunizierten per Handy mit anderen Männern, die die Bewegungen der Grenzpolizei beobachteten. Einen Großteil des Weges trug ich meine Frau in den Armen, denn der Boden war uneben und ich befürchtete, sie könnte fallen und das Gestell an ihrem Arm könnte sich in den Ästen verfangen.
Nach ungefähr 25 Minuten erreichten wir eine Straße, die an der Grenze entlang führte. Die Straße wurde regelmäßig durch Lichtkegel der Grenztürme beleuchtet. Wir mussten also auf die Zeichen der Schlepper achten, um die Straße zu überqueren. Als es so weit war, eilte ich mit meiner Frau in dem Arm los. Während ich sie trug, schaute sie über meine Schulter, als sie plötzlich sagte: „Schau der alte Mann hinter uns blutet am Kopf. Du musst ihm helfen.“ Ich setzte sie am Straßenrand ab und eilte zurück zu dem Mann, der sich an einem Baum gestoßen hatte und am Kopf stark blutete. Ich half ihm auf die Straße und in dem Moment, in dem wir meine Frau erreichten, erschien auf einmal eine Patrouille der türkischen Grenzpolizei.
Sie nahmen uns fest und brachten uns in ein Gefängnis. Dort verbrachten wir die Nacht und am nächsten Morgen brachten sie uns zurück zu einem geschlossenen Grenzübergang und ließen uns auf syrischem Boden wieder raus. Unser erster Versuch Syrien zu verlassen war gescheitert.
Zweiter Versuch
Wir fuhren zunächst zu einer Schwester meiner Frau, die in einem Dorf in der Nähe wohnte. Wir aßen und wuschen uns und entschieden, es am gleichen Abend erneut zu versuchen.
Ich ging zum gleichen Schlepper. Diesmal waren wir in einer Gruppe mit 50 Flüchtlingen. Unter den Menschen war ein Paar aus Idlib. Sie hatte einen Säugling dabei, der gerade mal 23 Tage alt war. Die Schlepper haben das Paar ermahnt, dafür zu sorgen, dass das Kind nicht weint, weil wir sonst auf uns aufmerksam machen würden. Kurz bevor es losging, stillte die Mutter ihr Kind bis es satt war und gab ihm anschließend drei Schlaftropfen. Das Kind schlief fest und doch hatten wir den ganzen Weg über Angst, dass es doch noch weinen könnte.
Wir brauchten ca. drei Stunden bevor wir Kotschi – ein sehr kleines Dorf auf der Türkischen Seite – um vier Uhr in der Früh erreichten. Dort hatten die Schlepper einen Transporter bereitgestellt, in den wir einstiegen und der uns zum Busbahnhof nach Antakya brachte.
Die Ärzte
In Antakya verbrachten wir zwei Tage bei Freunden, bevor wir uns weiter auf eine 17stündige Reise nach Istanbul begaben. Dort kamen wir bei der zweiten Schwester meiner Frau unter und ich traf meinen Freund, den irakischen Arzt. Er begleitete uns zu mehreren Ärzte und Kliniken, die den Arm meiner Frau untersuchten. Jeder hatte eine andere Meinung und einen anderen Therapieansatz. Nach 25 Tagen und nachdem ich 4000 $ für die Untersuchungen ausgegeben hatte, kamen wir zu dem Schluss, dass ihre Behandlung in der Türkei ein Glücksspiel ist. Mein Freund, der irakische Arzt, empfahl uns, zur Behandlung entweder nach Frankreich oder nach Deutschland zu gehen.
Die Botschaften
Ich begab mich also in die französische Botschaft. Sie sagten mir dort, ich könne einen Visumsantrag stellen und hoffen, dass dieser akzeptiert wird. Mir war klar, dass unsere Chancen sehr schlecht waren und ich mindestens sechs Monate warten müsste, und das mit unsicherem Ausgang. Also ging ich zur deutschen Botschaft, wo ich einen Antrag auf Visum für Schwerverletzte stellen wollte. Hier erklärte man mir, dass dieses Programm nicht mehr existiert und dass wir höchstens ein normales Visum beantragen könnten. Auch das kam auf Grund der langen Wartezeiten nicht in Frage, denn die Ätzte sagten mir, dass die Gefahr einer Amputation mit der Zeit steige.
Es blieb uns wieder nichts anderes als der illegale Weg.
Die Vorbereitung
Wir fuhren also nach Izmir. Von dort fuhren die meisten Schlepperboote los. Wir ließen uns in einem Hotelzimmer nieder. Ich ging dann und setzte mich in ein Café. Nach kurzer Zeit kam ein Mann zu meinem Tisch, nahm sich einen Stuhl, setzte sich und fragte knapp: „Europa?“
Ich sagte „Ja“ und fragte wieviel es kosten würde.
„1250 $ pro Person. Wieviel seid ihr?“
In Izmir sind alle Schlepper Betrüger und Lügner. Ich hatte absolut kein Vertrauen und machte mit ihm aus, dass ich ihn erst bezahlen würde, wenn ich ein Bein im Boot habe. Er stimmte zu und sagte mir, dass ich mich zwei Tage gedulden müsste, weil ein Gewitter über dem Meer wüten würde.
Das Déjà-Vu
Am dritten Tag rief er mich an und sagte, wir sollten um 20 Uhr beim Restaurant Sindbad am Basmane Platz in Izmir sein. Ich besorgte Schwimmwesten für meine Frau und mich. Für sie kaufte ich zusätzlich 4 Schwimmflügel für den gesunden Arm und beide Beine und einen Schwimmreifen. Ich habe dafür insgesamt 300 $ gezahlt.
Ungefähr 50 Flüchtlinge wurden dann am ausgemachten Treffpunkt in einen Transporter geladen. Meine Frau saß wegen Ihrer Verletzung neben dem Fahrer. Wir haben zuvor von erstickten Flüchtlingen in Transportern gehört, also hatte ich und auch andere Messer dabei, mit denen wir die Abdeckplane aufgeschlitzt haben um besser atmen zu können. Als wir nach einiger Zeit an einem entlegenen Strand ankamen, schimpfte und fluchte der Fahrer wegen seines beschädigten Transporters. Dort waren nun alle Schlepper bewaffnet und ab hier gab es kein Zurück mehr. Sie befahlen uns, uns hinzusetzen und wir fingen an uns auf die Überfahrt vorzubereiten. Wir zogen die Schwimmwesten über. Meiner Frau zog ich jeweils einen Schwimmflügel über den gesunden Arm und über ihre beiden Beine. Dann band ich mir ein Ende des Seils um die Hüfte und das andere an den aufgeblasenen Rettungsring, den ich meiner Frau gab. So konnte ich sicher gehen, dass ich sie nicht verliere würde, sollten wir kentern.
Die Schlepper bereiteten das Schlauchboot vor und trieben uns zum Strand. Das Boot war ausgelegt für 25 Personen, es hätte vielleicht problemlos 35 transportieren können. Wir waren jedoch über 50, dazu kamen noch all unsere Taschen.
Bevor wir einstiegen fingen alle an, sich voneinander zu verabschieden. Wir wussten, dass es vielleicht unsere letzten Momente auf dieser Erde waren. Es herrschte eine Stimmung, wie bei einer Beerdigung. Ich drehte mich zu meiner Frau um und sagte ihr: „Teure, sollte wir sterben, dann vergib mir, dass ich dich nicht habe beschützen können. Sollte ich sterben und du überlebst, dann geh in die Türkei, lass dich dort so gut es geht behandeln und geh danach zurück zu meiner Familie. Sie werden sich um dich kümmern.“
Sie weinte und sagte: „Ich habe nur einen Arm. Wie soll ich das alleine schaffen?“
Ich antwortete: „Allah wird dich beschützen.“
In diesem Moment fuhren mehrere Geländewagen der Polizei heran. Die Schlepper sprangen in das Boot, machten sich davon und ließen uns zurück.
Die Polizei verhaftete alle Iraker und Afghanen. Uns Syrer brachten sie zu einem Bus, der uns zurück nach Izmir fuhr. Dort kehrten wir in das gleiche Hotel zurück, in dem wir zuvor untergekommen sind.
Der Aufbruch
Am Nachmittag des nächsten Tages rief mich jemand von einer mir unbekannten Nummer an. Es war der gleiche Schlepper, mit dem wir einen Tag zuvor fahren wollten. Er sagte: „Bereitet euch vor. Ich hole euch um 18 Uhr ab. Heute haben wir den Weg vorbereitet“. Wahrscheinlich hat er diesmal mehr Bestechungsgeld an die Behörden bezahlt.
Wir kauften erneut Schwimmwesten, denn die Polizei hatte unsere konfisziert. Ich habe mit dem Schlepper sogar ausgehandelt, dass er diesmal die Hälfte der Kosten übernimmt.
Mehrere gelbe Taxis brachten uns in ein zwei Stunden entferntes Hotel, das am Meer lag. Um zwei Uhr in der Früh brachten sie uns dann schließlich an den Strand. Diesmal waren wir 38 Menschen. Mehrere bewaffnete Schlepper bewachten uns. Ich trug meine Frau bis ins Boot. Das Wasser reichte mir bis zur Brust. Als ich einstieg, nahm mir einer der Schlepper meine Armbanduhr ab. Es war ein Geschenk, das mir mein Vater zu meinem Abitur geschenkt hatte.
Die Überfahrt
Ich bin ein guter Schwimmer, deshalb hatte ich anfangs auch keine Angst. Nach 15 Minuten auf dem Meer blickte ich mich um und schaute ins Schwarze. Überall war Wasser; langsam wurde mir mulmig. Ich saß am Rand und meine Frau saß mit geschlossenen Augen zwischen meinen Beinen. Irgendwann packte auch mich die Angst und ich sagte ihr: „Sprich deine Glaubensbekenntnis. Hier liegt es allein in Allahs Hand, sollte uns etwas passieren.“
Gereizt sagte sie nur: „Rede nicht mit mir!“
Nach 45 Min schlugen die Wellen immer höher und das Boot kam kaum noch vorwärts. Irgendwann sagte der Fahrer, dass wir zu schwer sind und wir Gewicht verlieren müssten. Nach einer kurzen Diskussion schmissen wir unsere Taschen über Bord. Einzig eine schwarze Umhängetasche mit all unseren wichtigen Papieren behielt ich bei mir.
Unser Ziel war Samos. Unterwegs brachen immer wieder hitzige Diskussionen aus, in welche Richtung wir steuern sollten. Mehrere versuchten mit ihren Handys anhand der GPS-Daten zu erkennen, wo wir sind und wo wir lang mussten.
Als die Insel in Reichweite war, näherten wir uns gefährlichen Felsen im Wasser. Die Wellen waren so hoch und die Strömung so stark, dass unser Boot immer weiter auf die Felsen getrieben wurde. Der Fahrer schaffte es nicht uns heraus zu navigieren, denn der Motor war einfach zu schwach. Alle im Boot schrien und hatten Angst. Ich hielt meine Frau fest und sagte zu ihr: „Es kann sein, dass wir ins Wasser fallen werden. In diesem Fall leg dich auf deinen Rücken und lass dich treiben. Du kannst nicht sinken. Ich werde bei dir sein.
Sie fragte: „Werden wir sterben?“
Ich sagte: „Vertraue auf Allah und uns wird nichts geschehen.“
In diesem Moment hatte ich keine Angst um uns. Wir waren gut vorbereitet und ich bin ein guter Schwimmer. Was mich jedoch panisch machte, waren die Kinder in dem Boot. Mir gegenüber saß ein Mann, der mit fünf Kindern unterwegs war. Das Jüngste war 8 Monate alt. Es war ein Junge und er hieß Hossamo. Jedes Mal wenn ich den Kleinen ansah, lachte er mich an. Hysterisch sagte meine Frau zu mir: „Dieses Kind wird bestimmt sterben.“
Ich sagte: „Preise den Propheten und beruhige dich.“
Noch immer kämpfte der Fahrer gegen die Strömung und noch immer waren alle auf dem Boot in Panik und rechneten mit dem Schlimmsten. Dann tauchte ein Schiff der griechischen Küstenwache auf.
Die Tasche
Sie näherten sich und warfen uns ein dickes Seil zu. Ich und ein anderer Syrer fingen es auf und sie versuchten uns von den Felsen wegzuziehen, doch das Boot war zu groß, zu voll und die Strömung zu stark. Wir versuchten es mehrere Male, dann näherte sich die Küstenwache unserem Boot und ließ ein Seil mit mehreren Knoten runter. Einen Mann, der ohne Rücksicht versuchte sich vorzudrängeln, zogen wir wieder runter. Wir halfen erst den Kindern, dann den Frauen an Bord zu gehen. Als letztes kamen die Männer dran.
In diesem Moment dachte ich an meine Umhängetasche. Ich hatte sie zuvor neben meine Frau gestellt, doch nun hatte sie sie nicht mehr und ich konnte sie nicht mehr sehen. Ich suchte das ganze Boot ab, doch sie war nirgends. Mittlerweile waren auch alle Männer an Bord gegangen. Zurück blieben ich und eine alte Frau, die in einer Ecke des Bootes saß. Sie sagte zu mir: „Mein Sohn hilfst du mir?“
Sie war dick und schwer. Ich reichte ihr meine Hand und stützte sie. Meine Gedanken kreisten weiter um meine verloren gegangene Tasche. Sie enthielt Pässe, Geld, Diplome, Krankenakte und war alles was ich noch besaß. Ohne diese Tasche wäre unsere Reise beendet. Als die Frau stand und ich sie stützte, erblickte ich, während sie zum Seil taumelte, meine Tasche an der Stelle, an der sie zuvor saß. Irgendwie ist sie hinter die alte Frau gerutscht. Ich griff sie mir und es war, als würde die Erleichterung mir Kraft verleihen, so dass ich sie fast eigenhändig aufs Schiff hievte und schließlich als letzter an Bord ging.
Eine Stunde später, gegen sieben Uhr in der Früh legte das Schiff an einem Hafen auf Samos an und wir gingen an Land.
Der Anwalt aus Syrien hatte mittlerweile seinen zweiten Kaffee begonnen jedoch nur bis zur Hälfte getrunken. Während er erzählte schien er das Erlebte erneut zu durchleben, nur dass er mich diesmal mitnahm. Seine Erinnerungen schienen zu meinen eigenen zu werden und es fiel mir schwer meine Neutralität zu bewahren. Immer wieder musste ich ihn stoppen, um mir Notizen zu machen. Immer wieder ertappte ich eine Träne, die mir entwich. Immer wieder fragte ich mich, wie ich in dieser Situation gehandelt hätte. Um 23 Uhr schließlich einigten wir uns, an einem anderen Tag weiter zu machen.
Bitte ein happy end…..
Es ist furchtbar, was diese Mitmenschen erleben müssen.