Freitag, der 23.10.2015.
Eigentlich hatte ich nicht geplant, mich an diesem Abend nochmals auf den Weg zu machen. Gegen 23 Uhr erreichte mich jedoch eine Meldung von den ZOB-Helfern, dass noch Busse erwartet werden. Ich machte mich daher gegen Mitternacht auf den Weg, um zwei Stunden vor Ort zu helfen. Die Nacht war kalt. Da es sehr spät war und auch keine Busse mehr angekommen sind, hatte ich nur zwei Begegnungen von denen ich diesmal berichten kann.
Begegnung 1
Eine Gruppe von drei Somaliern steht frierend am Helferstand. Zwei von ihnen essen eine Suppe. Die beiden sprechen nur Somali und schlechtes Englisch. Der Dritte kommt auf mich zu und fragt, ob ich arabisch kann (arabisch ist in eine Amtssprache und wird meistens von gebildeteren Somaliern beherrscht). Er fragt nach Kleidung für sich und seine beiden Begleiter. Zwei von ihnen tragen unter einer dünnen Jacke nur ein T-Shirt. Wir versuchen sie (so gut es geht) aus den Beständen der Helfer am ZOB zu versorgen. Viele der Jacken, die wir vor Ort haben, sind jedoch zu groß.
Begegnung 2
Ein Syrer kommt zu mir und fragt nach einer Jacke. Er trägt nur eine dünne Regenjacke und darunter ein T-Shirt. Wir suchen lange Kleidung in seiner Größe. Er gibt sich schließlich mit einem Pullover und einer warmen Trachtenjacke zufrieden. Ein zweiter Syrer, mit einem 19 Monate alten, schmächtigen Kind auf dem Arm, kommt und fragt nach einem Autositz, den sie für die Busfahrt nach Essen benötigen. Wir haben jedoch keinen geeigneten Kindersitz vor Ort. Er nimmt sich schließlich einen Maxi-Cosi, der eigentlich zu klein für das Kind ist. Beide Männer gehören zur gleichen Gruppe, die aus fünf Männern, einer Frau und dem kleinem Kind besteht. Das Kind hustet und hat leichtes Fieber. Die Helfer versuchen sich so gut es geht um das Kind zu kümmern. Irgendwann kommt ein Sanitäter vorbei. Er will die Polizei rufen, damit die Flüchtlinge in ein Lager gebracht werden, da er das Kind nicht draußen schlafen lassen möchte. Die Syrer wehren sich:
„Ich will mich nicht in München registrieren lassen. Meine Schwester lebt in Essen. Dort wollen wir hin. Wir brauchen keine Wärme. Wir sind durch halb Europa gereist. Das letzte Stück schaffen wir auch so.“
Wir Helfer überlegen, was wir machen können. Ich schlage vor, die Gruppe zur Denisstraße zu bringen und mache mich mit ihnen auf den Weg. Untereinander sprechen sie eine Sprache, die ich nicht verstehe. Ich vermute, dass es Kurden sind.
„Woher kommt ihr?“ frage ich.
„Aus Al-Hasaka.“, antwortet einer der Männer.
„Seid ihr Kurden?“
„Ja, genau.“
„Wo liegt Al-Hasaka?“
„Im Norden von Syrien, in der Nähe der türkischen und irakischen Grenze.“
„Was hat euch zur Flucht getrieben?“
„Daech (er meint den IS) hat immer wieder angegriffen.“
„Daech hat Al-Hasaka eingenommen? Das wusste ich nicht.“, sage ich verwundert.
„Nein, sie haben uns nur mehrmals angegriffen. Aber die Kämpfer der PYD (‚Partei der Demokratischen Union‘ in Syrien) konnten sie jedes Mal zurückschlagen. Kennst du die PYD?“
„Ja, ich habe von ihnen gelesen.“
„Der Widerstand ist zu stark. Sie werden Al-Hasaka nicht einnehmen können.“, sagt er mit einem leichten stolzen Ton in der Stimme.
„Wie lange wart ihr unterwegs?“
„Zwei Wochen.“, sagt er.
„Das ist schnell. Wurdet ihr in Busse gesetzt?“
„Ja. Sie haben uns in Slowenien und Kroatien von einer Grenze zur nächsten gefahren.“
Mittlerweile haben wir schon den halben Weg hinter uns. Einer der Männer kommt zu mir und sagt: „Syrien war ein schönes Land. Ich habe es geliebt. Ich hätte es niemals verlassen.“
„Sie haben es zerstört.“, sage ich wehmütig.
„Vor 15 Jahren hätte ich nach Deutschland kommen können.“, erzählt er. „Ich hing jedoch zu sehr an Syrien.“ Er schweigt ein paar Sekunden: „Aber nun hatten wir keine andere Wahl.“
„Seid ihr über die Türkei geflohen?“
„Ja, wir waren zwei Jahre lang dort. Dann haben wir uns entschieden, weiter zu ziehen.“
„Warum? War das Leben nicht gut dort?“
„Die Türkei ist schön, aber das Leben ist teuer. Außerdem ist es als Kurde schwierig, einen Job zu bekommen. Wir haben dort keine Zukunft.“
Wir erreichen die Notunterkunft in der Denisstraße. Es sind lediglich die Männer der Sicherheitsfirma anwesend. Sie verweigern uns den Eintritt und verweisen darauf, dass wir eine Genehmigung der Stadt benötigen. Um 2 Uhr in der Früh ist es jedoch nicht möglich, diese zu erhalten. Ich erzähle ihm von dem kleinen, frierenden Mädchen. Er sagt jedoch, dass er uns nicht hineinlassen kann. Es könnte ihn seinen Job kosten.
Nach dieser Aussage machen wir uns wieder auf den Rückweg zum ZOB. Wir schweigen fast den ganzen Weg. Nur einer der Männer, mit dem ich bisher noch nicht geredet habe, kommt und fragt: „Wie weit ist Leipzig von hier?“
„Du willst nach Leipzig?“, frage ich erstaunt. Er ist der erste Flüchtling mit dem ich rede, der nach Leipzig möchte. „Es müssten so um die 400 km sein. Aber was willst du in Leipzig?“
„Mein Vater ist dort. Er hat schon eine Aufenthaltsgenehmigung.“
Als wir am ZOB angekommen sind, rüsten wir die Gruppe mit Schlafsäcken und Isomatten aus. Ich helfe dabei, den Schlafplatz des kleinen Mädchens herzurichten. Schließlich verabschiede ich mich. Bevor ich gehe, stellt mir der Vater noch ein paar Fragen zu den Simkarten und dem mobilen Netz in Deutschland. Zuletzt sage ich zu ihm: „Wenn du mobiles Internet auf deinem Handy nutzen möchtest, dann musst du das beim Kauf der Simkarte explizit sagen. In Deutschland bieten nicht alle Simkarten diese Option.“
Er schaut mich an, als hätte ich gerade etwas wirklich Unglaubliches gesagt.
Später
Um halb vier komme ich Zuhause an. Wie immer, gehe ich in das Zimmer meiner Tochter und decke sie zu. Ich knie noch ein paar Sekunden an ihrem Bett und denke dabei an das kleine Mädchen, das am ZOB mit ihren Eltern in der Kälte liegt. Ich hoffe, dass sie das alles bald hinter sich hat. Ich denke auch an die, die vielleicht jetzt erst aufbrechen, um zu uns zu kommen.
Bald beginnt der Winter.
Bald wird es schneien.