Mittwoch, der 18.11.2015 in Berlin
Für ein Projekt musste ich für ein paar Tage in meine Geburtsstadt: nach Berlin. Ich nahm meine Frau und Kinder mit und nutzte die Gelegenheit, meine Eltern und Schwestern zu besuchen. Am Mittwoch morgen weckte mich mein Sohn bereits um halb sechs Uhr in der Früh. Da ich nicht mehr einschlafen konnte und ich schon länger neugierig auf die Umstände am LaGeSo war, machte ich mich kurzerhand auf den Weg dorthin.
Als ich angekommen bin, habe ich mich erstmal gute 20 Minuten auf dem weitläufigen Gelände verirrt. Das LaGeSo besteht – ähnlich einem Universitätscampus – aus mehreren Gebäuden, getrennt durch Wege und Grünflächen. Die Gebäude sind mit Buchstaben gekennzeichnet. Zwischen den Gebäuden wurden an mehreren Stellen große, weiße und beheizte Zelte vom THW aufgestellt. Während einige leer waren, standen in anderen eine Menge Flüchtlinge.
Irgendwann – es war bereits kurz nach acht – fand ich vor Haus R eine kleine Gruppe von Helfern. Sie sagten, dass ich als Dolmetscher zu den Ärzten in Haus M kommen soll.
Am Empfang (bevor ich überhaupt meine Hilfe anbieten konnte) wurde ich sofort eingespannt, um für die anstehenden Flüchtlinge zu übersetzen. Es stellte sich heraus, dass ich zu dieser Zeit der einzige anwesende arabische Dolmetscher war. Nachdem ich eine gewisse Zeit am Empfang aushalf, wurde ich in den Behandlungsbereich gerufen und übersetzte dort für die Ärzte.
Der medizinische Bereich ähnelt einer kleinen Klinik. Es gab einen Empfang, einen Wartebereich, drei Behandlungsräume und einen Aufenthaltsraum, den sich Ärzte und freiwillige Helfer teilen.
Es kam zu einigen Begegnungen die ich hier wiedergeben werde. Ich vermeide medizinische Details, die eindeutige Rückschlüsse auf Patienten zulassen.
Situation 1
Eine Frau steht am Empfang. Sie will einen Schein haben, um nicht anstehen zu müssen. Ihr Säugling hat hohes Fieber und draußen herrscht starker Wind. Sie wird von ihrem Bruder begleitet. Ich schätze ihn auf 20 Jahre. Die junge Dame am Empfang sagt: „Ihr Bruder kann doch mit dem Baby im Heim bleiben, während die Mutter hier wartet.“
„Aber ich stille das Baby doch noch“, sagt die Syrerin verständnislos.
„Dann soll sie die Milch abpumpen“, schlägt die junge Dame am Empfang vor. Ich habe selbst Kinder und weiß, wie schwierig diese Situation ist und kann mir in diesem Moment den Bruder auch nicht alleine mit dem Baby vorstellen. Dazu kommt, dass ich mir ziemlich sicher bin, dass das „Abpumpen“ in Syrien nicht unbedingt bekannt ist. Ich schlage vor, sie mit dem Arzt sprechen zu lassen, damit dieser über einen eventuellen Härtefall entscheidet.
Die Frau setzt sich schließlich mit einer Nummer in den Wartebereich.
Situation 2
Ein Mann kommt mit seinem Sohn und seiner Frau. Er erzählt, dass sein Sohn am Knie operiert wurde. Um es zu beweisen, legt er ein Foto von dem operierten Bein vor. Er will einen Schein, um nicht anstehen zu müssen.
„Warum muss er überhaupt anstehen?“, fragt die Empfangsdame.
„Damit mir das Geld ausgezahlt wird“, sagt er. Ich übersetze.
„Aber das kann er doch alleine machen. Dafür braucht er seine Frau und seinen Sohn nicht mitbringen“, klärt erst sie mich, dann ich ihn auf.
Dennoch scheint der Mann unsicher zu sein und sagt: „Aber sie haben mir gesagt, dass wir alle kommen müssen.“
„Ja anfangs, zur Registrierung. Aber nicht für die Auszahlung.“
Situation 3
Ein Mann sitzt im Behandlungsraum und will als Härtefall anerkannt werden. Er stammt aus Damaskus und eine Bombe ist in seiner Nähe explodiert. Durch die Explosion und die Splitter ist er an mehreren Stellen verletzt, jedoch sind die Wunden wieder einigermaßen verheilt. Dennoch sieht er sich nicht imstande, 14 Stunden am Tag stehend zu warten. Die Ärzte überlegen lange und untersuchen ihn mehrmals. Sie kommen zu der Entscheidung, dass er keinen Härtefall darstellt.
„Aber ich kann nicht länger als eine halbe Stunde am Stück stehen. Außerdem sind wir in den Reihen so aneinander gepresst und die Leute schieben und schubsen. Ich bin mir sicher, dass ich mich wieder am Bein verletzen werde“, protestiert er.
„Gibt es dort denn keine Sitzmöglichkeiten?“, fragt die Ärztin.
Er lächelt müde und sagt: „Nein, gibt es nicht. Überall sind Metallabsperrungen gegen die wir gepresst werden. Und es wird viel geschubst.“
Als die Ärzte kurz den Raum verlassen, fleht er mich an: „Bitte Bruder, rede mit ihnen. Versuche, sie zu überzeugen.“
„Ich habe ihnen alles gesagt. Ich bin nur zum Übersetzen hier. Diese Entscheidung muss von den Ärzten getroffen werden.“ Ich erkläre ihm, dass die Ärzte gerne jeden als Härtefall ansehen würden, jedoch anscheinend nur eine begrenzte Anzahl an Patienten pro Tag als solche deklarieren dürfen.
„Es ist eine Bombe vor mir explodiert. Schau dir meinen Körper an. Was soll denn noch alles passieren, damit ich als Härtefall gelte?“
Als die Ärztin ihm am Ende lediglich ein paar Schmerztabletten anbietet, lehnt er wütend ab, packt seine Sachen und geht mit finsterer Miene.
Situation 4
Ein Mann möchte als Härtefall anerkannt werden. Er geht auf Krücken, da eines seiner Beine seit seiner Kindheit komplett gelähmt ist. Er sagt: „Ich habe die ganze Nacht, ab 23 Uhr, draußen gewartet. Als um fünf Uhr das Gelände geöffnet wurde, sind die jungen Männer losgestürmt und haben sich angestellt. Mit meinen Beinen hatte ich keine Chance rechtzeitig anzukommen.“
Die Ärztin untersucht ihn kurz und entscheidet, schnell eine Härtefallbescheinigung auszustellen.
Als er den Behandlungsbereich verlässt, ruft er seinem Begleiter, der im Warteraum wartet, aufgeregt zu: „Ich habe es! Ich bekomme den Schein.“
Situation 5
Im LaGeSo ist die Caritas, deren Büros in unmittelbarer Nähe der Behandlungsräume liegen, für die Aufnahme der Härtefälle zuständig. Ich werde gebeten, für eine Familie zu übersetzen, damit deren Situation erfasst werden kann. Vater und Mutter sind relativ jung. Ich schätze sie auf höchstens 30 Jahre. Sie haben ein kleines ca. ein Jahr altes Kind mit einer starken Behinderung und ein drei Jahre altes gesundes Mädchen dabei.
„Ich wohne zur Zeit mit meinen beiden Kindern in einer Halle. Eine Sporthalle für Basketball. Ich möchte dort raus. Wie du siehst ist meine Tochter behindert und sie ist krank. Das ist keine geeignete Unterkunft für sie“, erklärt die Mutter.
„Schau mal, ich habe Mama gemalt… und Papa“, redet das größere, gesunde Kind dazwischen, während es ein Strichmännchen auf ein Blatt Papier malt. Ich bewundere ihre Zeichnung und denke mir, dass sie von meiner Tochter stammen könnte.
„Außerdem hat man mich nach Berlin geschickt, obwohl an der Grenze vermerkt wurde, dass mein Mann in…“ Sie denkt nach, doch der Name fällt ihr nicht ein. Dann fordert sie ihren Mann auf: „Sag schon, wie heißt die Stadt?“
Er zögert, sagt dann aber: „Wismar (ich bin mir nicht mehr sicher, ob es Wismar war). So heißt die Stadt. Es ist schwer für sie, sich alleine um die Kinder zu kümmern. Wäre sie bei mir, könnte ich ihr mit den Kindern helfen. Aber so ist das nicht möglich.“
„Oh…“, unterbricht uns wieder das kleine Mädchen. „Ich habe die Arme vergessen.“ Und sie malt dem Papa, der bisher nur aus einem Kopf und sehr langen Haaren bestand, zwei Arme dazu.
„Aber deinem Papa fehlen ja auch noch die Beine. Wo sind seine Beine?“, frage ich sie. Nachdenklich schaut sie auf ihre Zeichnung und malt dann weiter.
Ich frage den Vater: „Warum bist du in Wismar? Wurdet ihr an der Grenze getrennt?“
„Nein, ich bin schon seit vier Monaten hier und wollte einen Antrag auf Familiennachzug stellen“, sagt er.
Ich schaue seine Frau an und frage sie: „Aber du bist mit einem Boot gekommen und nicht über den Familiennachzug?“
„Ja, das hätte alles zu lange gedauert. Die Prozeduren sind kompliziert. Also habe ich mich einfach mit den Kindern alleine auf den Weg gemacht“, sagt sie, als würde sie etwas ganz Banales beschreiben.
Was für eine verrückte Situation, denke ich mir. Der starke Mann zieht los, um seine Familie zu retten. Doch er wird daran gehindert, weil es zu lange dauert und in Syrien jede Stunde zählt. Also nimmt die Frau ihr Schicksal in die Hand und macht sich alleine mit den zwei Kindern auf den Weg.
„Schau mal, ich habe einen Polizisten gemalt“, sagt das Mädchen und zeigt auf ihren Zettel.
„Ist das ein gemeiner oder ein netter Polizist?“, frage ich.
„Der ist lieb!“, sagt sie und malt weiter.
Situation 6
Ich bin wieder bei den Ärzten. Ein Mann erklärt mir, dass seine Tochter schwer krank ist und er für den anstehenden Termin eine Bescheinigung benötigt. An seinem Akzent bemerke ich, dass er Ägypter ist. Als ich ihn danach frage, sagt er:
„Ja, ich bin Ägypter.“
„Warum bist du geflohen?“
„Meine Tochter ist schwer krank und muss am Herzen operiert werden. In Ägypten bezahlt niemand eine OP. Ich habe also mein Hab und Gut verkauft und bin hier hergekommen.“
„Welchen Weg hast du genommen? Über das Meer?“
„Wir sind in Alexandria in ein Boot eingestiegen und waren dann sieben Tage auf dem offenen Meer unterwegs, bis wir in Italien angekommen sind.“
„Sieben Tage? Warum so lang?“
„Der Weg von Alexandria bis Italien ist sehr weit. Das dauert einfach länger.“
„Dann war es wahrscheinlich auch kein Schlauchboot. Oder?“
„Nein, es war ein altes Fischerboot aus Holz. Nicht unbedingt tiefseefest. Wir waren 450 Menschen auf dem Boot. Am Ende wurden wir von einem Schiff von dem Roten Kreuz bis zur Küste begleitet.“
Situation 7
Ein korpulenter Mann hat Probleme mit seinem Knie und versucht – wie viele andere auch – als Härtefall anerkannt zu werden. Er kann nicht lange stehen, daher ist das lange, stundenlange Warten in der Schlange eine Qual für ihn. Die Ärzte untersuchen ihn und entscheiden, dass es sich bei ihm um keinen Härtefall handelt. In einem letzten Versuch sagt er zu mir: „Sag ihm (er meint den Arzt), dass ich Kaligraph bin und wenn er mir die Bescheinigung gibt, dann mache ich ihm viele Kunstwerke für seine Wohnung.“
Der Arzt lacht und erwidert: „Das ist nett, aber leider habe ich keinen Platz in meiner Wohnung.“
Der Mann versucht es nochmals: „Sag ihm, dass ich Arabischlehrer bin und ihm auch kostenlos Arabisch unterrichten würde.“
Alle grinsen und der Arzt sagt: „Dafür hätte ich leider gar keine Zeit.“
Im Schlafraum
Gegen 11 Uhr hat sich die Lage entspannt. Eine saudi-arabische Ärztin unterstützt mittlerweile das Ärzte-Team und ein syrischer Flüchtling, der auch englisch spricht, hilft beim Dolmetschen. Ich verabschiede mich und mache mich auf den Weg. Vor dem Ausgang des LaGeSo fällt mir ein Schild auf, das an einem Baum hängt und auf Schlafmöglichkeiten in der Nähe hinweist. Auf dem Schild ist zu erkennen, dass das HaDeWe die Schlafmöglichkeit verantwortet. Das HaDeWe ist ein Bildungs- und Moscheenverein, den ich gut von früher kenne, als ich noch in Berlin gelebt habe. Da ich als Jugendlicher dort am Religionsunterricht teilnahm und selber Kinder in Arabisch unterrichtet habe, entschied ich mich, die Schlafmöglichkeiten anzuschauen.
Im Grunde handelt es sich um eine Sporthalle, die direkt gegenüber vom LaGeSo liegt und nun als Notunterkunft dient. Die Sporthalle ist voll mit Flüchtlingen. Die meisten von ihnen sitzen auf dem Boden oder auf dünnen Isomatten. In der Mitte des Raumes steht ein Tisch mit Sandwiches. Ein Mann verteilt Tee. Hinter einem roten Vorhang sehe ich Feldbetten der Bundeswehr.
Als ich dort ankomme, treffe ich gleich Abdullah Hajjir, den nimmermüden Leiter des HaDeWe. Der mittlerweile ergraute Palästinenser erkennt mich nicht sofort, obwohl er mich gut kannte. Wir reden kurz, doch viel Zeit kann er für mich nicht aufbringen. Er eilt von rechts nach links. Flüchtlinge kommen auf ihn zu und stellen ihm Fragen.
Während ich dort bin, kommt ein Arzt mit ein paar Helfern und einer Noteinsatztasche vorbei. Ich erkenne, dass es der gleiche Arzt ist, dem die arabischen Kaligraphien angeboten wurden. „Die Lage drüben hat sich beruhigt. Deshalb wollten wir hier mal schauen, ob jemand medizinische Notversorgung benötigt.“
Später
Als ich mich auf den Weg nach Hause mache, komme ich nochmal vor dem LaGeSo vorbei. Es ist mittlerweile 13 Uhr. Vor dem Eingang stehen mehrere Männer, die mit kleinen grünen Büchern Flüchtlinge ansprechen und versuchen, ihnen diese zu geben. Ich nähere mich und bekomme auch ein solches Buch geschenkt. Es handelt sich um eine arabische Ausgabe des neuen Testaments. Auf der ersten Seite steht: „Der internationale Gideonbund ist eine Christliche Gemeinschaft bestehend aus Geschäftsmännern, Experten und Gläubigen, die sich in über 180 Ländern zusammengetan haben (…) um die Bibel zu verbreiten, damit jeder Gott Jesus Christus als persönlichen Erlöser kennenlernt.“
Hier geht es zum zweiten Teil meines Besuchs am LaGeSo. Diesmal nachts.
Ich bin selbst lange Zeit in der Flüchtlingshilfe aktiv gewesen und hege absolut keine Vorurteile. Dies muss ich vorausschicken, denn ich wünsche nicht missverstanden zu werden, wenn ich ein heißes Thema anspreche, das bislang überhaupt nicht diskutiert wird.
Vor ca. 2 Wochen war in Spiegel online ein Zitat einer Ärztin von der Insel Lesbos zu lesen, die sich wunderte, dass so viele Flüchtlingskinder Herzfehler haben oder sonstwie behindert sind.
In Ihrer Beschreibung oben finden sich auch Hinweise auf eine solche Häufung. Ein türkischer Freund meines Sohnes hatte einen Herzfehler und starb in Deutschland nach einer Herzverpflanzung. Sein Bruder ist ebenfalls schwerbehindert. Auch wenn es keine aussagefähige Statistik zu der Häufigkeit von Behinderungen bei islamischen Zuwanderern gibt, so lässt sich doch vermuten, dass die Praxis der arrangierten Ehen zwischen Cousin und Cousine, die sich in diesem ganzen Kulturkreis findet, über Generationen hinweg Erbschäden gehäuft auftreten lässt.
So frage ich mich, ob es die Aufgabe unserer Sozialversicherungen ist, die Leiden der bedauernswerten Opfer archaisch-nomadischer Traditionen zu lindern oder ob wir nicht unsere Anstrengungen darauf konzentrieren sollten, diese rückständigen Gesellschaften an die aufgeklärte Moderne heranzuführen, um solche familiären Katastrophen künftig zu vermeiden.
Hallo Herr Hinke,
wie sie selbst sagen ist hier keine statistische Aussage gemacht worden. In der Zeit, in der ich jetzt mir Flüchtlingen gearbeitet habe, ist dies der erste Fall eines solchen Herzfehlers, dem ich begegne. Sicher gibt es auch die von Ihnen angesprochenen Fälle, doch ist es etwas gewagt dies als allgemeine Regel und als besondere Belastung unserer Sozialversicherung darzustellen. Die große Mehrheit der Menschen die zu uns kommt, kommt wegen dem Krieg. Und die hier bei uns behandelt werden, werden behandelt, weil sie durch diesen Krieg Verletzungen erlitten haben. Diese Verletzungen wurden zum Teil durch Waffen verursacht, an denen wir mit verdient haben. Vielleicht sollte man dort ansetzen um unsere Sozialversicherung zu entlasten und die Waffenverkäufe und den Krieg beenden. Und wenn diese Gesellschaften in Frieden leben würden, dann würde auch die Bildung der Menschen wieder möglich werden und die von Ihnen angesprochene Situation würde sich von alleine erledigen.
Viele Grüße
Karim Hamed
Ich bin für diese kurzen Berichte, in denen die Menschen ein – wenn auch flüchtiges – Gesicht bekommen, wirklich dankbar. In dem Wust von Kriegsberichten, Überwachungsvorschlägen, und dem Versuch, die Flüchtlinge auf eine von oben herab definierte Masse herunterzubrechen, sind sie ein Seelenbalsam.