Tag 20: LaGeSo Berlin / nachts

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Donnerstag, der 19.11.2015

Als ich am Mittwochvormittag im LaGeSo ausgeholfen habe, wurde mir von mehreren Flüchtlingen erzählt, dass sie teilweise mehrere Nächte vor dem Gelände gewartet haben. Die Vorstellung erschien mir so surreal, dass ich mir ein Bild vor Ort machen wollte und Donnerstag um ein Uhr in der Nacht nochmal zum LaGeSo gefahren bin. (Hier geht es zum ersten Artikel vom LaGeSo)

Ich erwartete höchstens ein paar Dutzend junge Männer. Ich stellte mir vor, dass sie in Decken gehüllt und auf Isomatten auf den Morgen warten würden. Auch konnte ich mir vorstellen, dass bei dem Regen in dieser Nacht niemand vor Ort sein würde. Doch als ich ankam, bot sich mir ein ganz anderes Bild.

Der Eingang des LaGeSo wurde durch eine mobile Baustellenabsperrung geschlossen. Davor standen ein paar Security-Mitarbeiter. Rechts und links vom Eingang standen Flüchtlinge in zwei Reihen an. Auf der rechten Seite Männer und auf der linken Frauen. Die Reihen waren durch weitere Absperrungen begrenzt. Hinter diesen Absperrungen standen die Menschen zusammengepresst auf engstem Raum. Ein Teil der Wartenden hatte Einweg-Regenponchos, die ich zunächst für Mülltüten hielt, übergezogen. Auf der Straße vor dem Gelände stand ein Einsatzfahrzeug der Polizei und auf dem Bürgersteig ein Krankenwagen. Ein paar Meter weiter weg standen zwei Wärmebusse. Einer für Männer, der andere für Frauen und Kinder. Vor Letzterem standen fünf Kinderwagen. Überall saßen und lagen weitere Flüchtlinge auf dem Gehweg.

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Ich sprach zunächst mit einer kleinen Gruppe von Helfern, die Tee an die Flüchtlinge verteilten. Sie hatten dafür drei Fünf-Liter-Thermoskannen dabei. Der Tee war schnell vergriffen. Bevor die Helfer nach Hause gingen um heißes Wasser aufzufüllen, sagte mir einer: „Wir sind in der Facebook-Gruppe Tee vor dem LaGeSo organisiert. Heute ist es etwas ruhig. Die letzten Tage war hier noch viel mehr los.“

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Das Schlimmste an der Situation vor Ort war jedoch, dass hinter der Absperrung direkt im Eingang zwei große, beheizte, beleuchtete und vollkommen leere Zelte standen. Ein Helfer sagte mir: „Die lassen die Leute hier draußen bis um vier warten. Dann lassen die sie rein.“

„Warum ausgerechnet bis vier Uhr?“, frage ich verwundert.

Er zuckt mit den Schultern: „Wer weiß das schon.“ Und schaut dabei auf die unruhig werdende Menge hinter der Absperrung. „Das Schlimmste ist, sie lügen und sagen in der Presse, dass sie die Menschen die ganze Nacht in die Zelte lassen.“

„Wer lügt?“, frage ich.

„Der Senat.“, antwortet er.

„Und die Presse? Interessiert die sich nicht für die Situation hier?“

„Doch, da waren schon mehrere, aber ändern tut sich nichts.“, sagt er resigniert.

„Haben die Leute, die hier warten, gute Chancen am nächsten Tag dranzukommen?“, frage ich weiter.

Der Helfer lächelt müde, schaut mich an, als wäre ich ein naives Kind und sagt: „Die meisten verbringen mehrere Nächte hier. Das ist die Regel. Eine Woche ist nicht ungewöhnlich.“

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Ich gehe auf die wartenden Männer zu und schaue in ihre Gesichter. Ein junger Mann erwidert meine Blicke. Ich gehe auf ihn zu und suche den Dialog: „Entschuldige, ich bin das erste Mal hier. Und bin recht schockiert von der Situation. Darf ich dir ein paar Fragen stellen.“

„Ja, gerne.“, sagt er. Er heißt Akram (Name geändert).

„Ist es deine erste Nacht hier vor Ort oder warst du schon öfter hier?“, frage ich.

Er öffnet seine Jacke und holt ein rotes Dokument aus seiner Tasche. „Schau her, das ist die fünfte Nacht die ich hier verbringe. Ich hatte einen Termin am 5.11. und ich habe es nicht reingeschafft. Der Termin wurde deshalb immer wieder verschoben.“

„Was ist das für ein Termin?“, frage ich.

„Ich habe meine Aufenthaltsgenehmigung und wohne in einem Heim. Ich muss meine Kostenübernahme für das Heim immer wieder verlängern. Dafür muss ich herkommen. Im Heim haben sie mir nun eine Frist gesetzt. Ich muss bis zum 23.11. eine Kostenübername präsentieren.“

„Ja, und was ist, wenn du es nicht schaffst?“

„Dann bin ich obdachlos.“

Akram steht mit zwei Freunden in der Reihe, wie alle anderen aneinander gequetscht. Ich frage ihn, woher er kommt.

„Ich bin Palästinenser aus Syrien.“

„Kommst du etwa aus dem Yarmouk-Lager?“, frage ich ihn.

Überrascht sagt er: „Ja, genau. Du kennst Yarmouk?“ Wir reden ein bisschen über den Pianisten Aeham Ahmad aus Yarmouk, dann fragt er mich: „Woher kommst du?“

„Ich bin Deutsch-Tunesier.“, antworte ich.

„Wir Palästinenser lieben Tunesien. Tunesien, das Grüne!“, sagt er mit einem freundlichen Lächeln.

Ich antworte ihm: „Glaub mir: Auch wir Tunesier tragen alle Palästina im Herzen.“

In dem Moment wird es etwas lauter. Eine Frau schreit etwas und Männer pfeifen. Die Tür des Einsatzwagens der Polizei knallt auf und mehrere Polizisten steigen aus und platzieren sich demonstrativ vor den Wartenden.

„Bruder, könntest du uns etwas zu trinken besorgen?“, bittet mich der junge Mann aus Yarmouk.

Ich gehe und frage einen Helfer, ob es irgendwo Wasser für die Menschen gibt. Er schüttelt den Kopf und sagt „Nein, haben wir nicht.“

Schließlich gebe ich Akram und seinen beiden Begleitern zwei Trinkpäckchen, die ich zufälliger Weise bei mir trage. Sie trinken sie hastig und bedanken sich. Ich fühle mich schlecht, nicht mehr tun zu können. Wir tauschen Kontaktdaten und bevor ich gehe sagt er zu mir: „Warum erniedrigen die uns so?“

Das Gleiche frage ich mich auch.

***

Um sieben Uhr morgens erhalte ich folgende Nachricht von Akram:

„Wir sind in der Früh reingekommen und haben uns angestellt, da haben uns die Security-Leute wieder weg geschickt. Sie haben gesagt, dass wir draußen nicht angestanden haben und geschummelt hätten.“

Ich frage ihn, wie das sein kann und warum die das machen.

„Irgendjemand hat wohl einen Security bestochen, damit er ihn reinschmuggelt. Als das aufgeflogen ist, haben die einfach die ersten hundert Leute nach Hause geschickt. Sie wenden bei uns Gruppenbestrafungen an. Ich gehe jetzt zurück ins Heim und versuche mein Glück heute um 19 Uhr nochmal. Und ganz um sonst war der Tag ja nicht.“

„Warum meinst du, dass es nicht umsonst war? Konntet ihr doch noch was erreichen?“, frage ich.

„Wir haben dich kennen gelernt.“

Seine Freundlichkeit in diesem Moment erschüttert mich. Ich hätte nach so einer Tortur jeden und alles verflucht. Doch es wundert mich nicht, habe ich doch Syrer bisher als extrem freundliche Menschen erlebt.

***

Am Abend gegen 21 Uhr frage ich ihn in einer Nachricht: „Und wo bist du jetzt?“

„Ich bin drinnen. Ich habe mich versteckt.“

„Wie versteckt?“

„Ich bin auf dem Gelände und habe mich im Müllcontainer für Papier versteckt.“

Später schreibt er mir noch, dass sie ihn wieder rausgeschmissen haben und alles umsonst war.

Er will sein Glück am Sonntagabend erneut versuchen.

Nachtrag

Am 27.11.2015 habe ich Akram noch mal angeschrieben und gefragt, wie weit er gekommen ist. Hier das Gespräch, das wir geführt haben.

„Friede mit dir Bruder, was gibt es neues bei dir?“, fragte ich ihn.

„Gott sei Dank, alles in Ordnung.“, antwortete er.

„Wie weit bist du gekommen?“

„Gestern habe ich es endlich geschafft, Gott sei Dank.“, zwischen den Zeilen las ich Erleichterung.

„Ah Gott sei Dank, wie oft bist du, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, zurückgegangen bis du rangekommen bist?“

„Bei Gott, vier Mal, bis mich ein Security-Mitarbeiter schließlich vorgelassen hat.“

„Heißt das du hast Schmiergeld bezahlt?“, es hätte mich nicht gewundert, trieb man die Menschen doch regelrecht zu fehlverhalten.

„Nein“, schrieb er knapp.

„Ja warum hat er dich dann vorgelassen?“, fragte ich verwundert.

„Ich habe ihm einen alten Terminzettel gezeigt und ihm erzählt, dass ich hier schon seit zwei Monaten jede nacht warte.“

„Hahahaha“, schrieb ich und musste tatsächlich über seine List grinsen.

„Er lies mich als ersten rein.“, fügte er hinzu.

„Er hatte ein Herz“, stellte ich fest.

„Ich kam sogar vor den Familien rein. Bist du noch in Berlin?“

„Nein, ich bin wieder in München“

„So Gott es will, treffen wir uns irgendwann wieder“, schrieb er.

„So Gott es will!“, stimmte ich zu.

„Und dann setzen wir uns zusammen und ich spendiere dir einen Saft, wie du ihn mir spendiert hast. Gutes soll mit Gutem vergolten werden.“

„Ach vergiss den Saft. Mir war es peinlich nur so wenig dabei gehabt zu haben.“, schrieb ich. In dem Moment fiel mir eine Frage ein, die ich mir seit der Nacht am LaGeSo öfter gestellt hatte.

„Sag mal, wenn du die ganze Nacht dort am LaGeSo anstehst. Wie gehst du zur Toilette?“

„Du bittest einen Polizisten. Die Toiletten sind drinnen, neben den leerstehenden Zelten.“

„Geht dein Platz in der Reihe dann verloren?“

„Nein, geht er nicht. Du hast es ja einem Polizisten gesagt. Problem ist nur, dass einige sich dann drinnen auf dem Gelände verstecken und wenn die Absperrungen geöffnet werden, dann sprinten sie los. Und dann entsteht Chaos.“

„Was machst du jetzt?“

„Ich lerne jetzt Deutsch, ich habe mich endlich in eine Schule einschreiben können.“

„Viel Erfolg.“

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