Tag 24: ZOB

Mittwoch, der 16.12.2015.

Ich war gegen 22 Uhr auf dem Weg nach Hause und saß in der S-Bahn Richtung Pasing. In den letzten Tagen wurden in Dornach keine Flüchtlinge untergebracht, da die Unterkunft noch für den längerfristigen Aufenthalt vorbereitet werden musste. Unterwegs entschloss ich mich kurzerhand, an der Hackerbrücke auszusteigen und mir die Lage am ZOB anzuschauen. Als ich ankam, standen drei Helfer um eine große, kinderreiche Gruppe herum, die sich auf den Weg zu einem Bus machen wollte. Da mehrere Kindersitze zu tragen waren, begleitete ich die Gruppe bis zu den Bussteigen.

Der Bus hatte 15 Minuten Verspätung. Also standen wir dort und warteten. Es kam zu einer einzigen Begegnung an diesem sehr kurzen Besuch am ZOB.

***

Ein junger Mann stellt sich zu mir. Er spricht arabisch. Als ich ihm erkläre, dass sich der Bus verspätet, sagt er: „15 Minuten sind doch nicht schlimm. Nach so einer langen Reise sind ein paar Minuten mehr oder weniger auch nicht schlimm.“

„Wo kommt ihr her?“, frage ich ihn.

„Aus dem Irak. Aus einer kleinen Stadt mit dem Namen Sinjar in der Nähe von Mossul. Wir sind Jesiden.“

„Warum seid ihr geflohen?“

„Daech! Sie waren lange bei uns.“ (Er meint den IS.)

„Seid Willkommen in Deutschland!“, sage ich, da mir nichts besseres einfällt. „Wie lange habt ihr für den Weg gebraucht?“

Er überlegt kurz und sagt: „Ungefähr 18 Tage.“

„Seid ihr mit einem Schlauchboot gekommen?“

„Ja, von der Türkei bis Griechenland.“

„Wie war es auf dem Meer? War es unruhig?“

„Wir hatten meterhohe Wellen. Es war sehr unruhig. Aber es ist alles gut gegangen.“, sagt er mit ernster Miene.

„Hattet ihr während der Überfahrt Angst im Boot?“

Er lächelt und sagt: „Nein, gar nicht. Wir haben gesungen und Musik gemacht. Die Kinder hatten vielleicht etwas Angst. Aber wir nicht. Ich habe keine Angst. Nichtmal vor dem Tod. Unterwegs hat sogar die türkische Küstenwache versucht, uns aufzuhalten.“

„Und wie seid ihr dann doch weitergekommen?“

„Ein Mann hat ein Kind über das Wasser gehalten und gedroht, es fallen zulassen. Ein anderer hatte ein Messer und gedroht, sich selbst umzubringen. Die anderen auf dem Boot haben das mit dem Handy gefilmt. Sie haben Angst vor Videos. Deshalb haben sie uns ziehen lassen.“

Die Vorstellung verschlägt mir die Sprache. Wir stehen eine Weile nebeneinander, ohne zu reden. Nach ein paar Minuten kommt ein kleiner Junge und stellt sich zu uns. Er sieht jung aus. Ich schätze ihn auf 12, erfahre aber, dass er 14 Jahre alt ist. Er schaut mich an. In seinen Augen glaube ich zu erkennen, dass er reden möchte.

„Bist du auch mit dem Schlauchboot gekommen?“

„Ja klar, mit ihm zusammen.“

„Hattest du Angst vor dem unruhigen Meer?“

Er grinste uns sagt: „Nein, ich habe gesungen.“

„Singst du gut?“

„Ja, ich singe gut.“

„Kommst du auch aus Sinjar?“

„Ja, aber wir sind in ein Camp der PKK nach Kurdistan geflohen. Kennst du die PKK?“

„Ich weiß wer das ist. Das heißt, ihr seid in einem Camp, welches von der PKK geführt wird, untergekommen?“

„Ja genau. Die Kurden haben uns gut aufgenommen. Ich habe sogar mit ihnen gekämpft.“

„Gegen wen habt ihr gekämpft?“

„Gegen die Türken. Auf dem Berg Dschudi. Dort wo die Arche Noah ist. Kennst du den? Ich habe dort gekämpft. Ich hatte eine Kalaschnikow und eine Uzi.“

„Hat euch die PKK in die Camps geholt, damit ihr mit ihnen kämpft?“

Empört sagt er: „Nein! Ich habe mich freiwillig gemeldet. Ich wollte kämpfen. Weißt du, die Türken sagen, dass die PKK Terroristen sind, dabei wollen sie nur ein Land für ihr Volk. Sie wollen das Land, das man ihnen weggenommen hat. Die von der PKK sind gute Leute. Sehr gute Leute. Es hat sogar ein Algerier und ein Soudanese mit uns gekämpft.“

Ich schaue wieder zu dem Älteren der beiden und frage ihn: „Hast du auch gekämpft?“

„Nein, habe ich nicht. Ich habe gelernt. Englisch. An einer Schule. Aber mein Bruder hat in Shirnach gekämpft und mein Vater in Kobane. Kennst du Kobane?“

„Ja, das ist in Syrien.“

„Mein Bruder war bei den Jesid-Khan.“

„Wer sind die Jesid-Khan?“, frage ich.

„Das sind Kämpfer, die sich zu einer Gruppe zusammengetan haben, um uns – die Jesiden – in Shirnach zu verteidigen. Sie konnten Daech dort vertreiben.“

„Woher hatten die Jesid-Khan ihre Waffen?“, frage ich weiter.

„Von hier und da. Einiges haben wir ihnen gegeben, das andere haben sie erbeutet.“

„Kämpfen dein Bruder und dein Vater jetzt immernoch dort?“

„Sie sind beide schon in Deutschland. Ich fahre mit meiner Schwester zu meinem Bruder. Er wartet schon seit acht Stunden auf uns am Busbahnhof in Oldenburg. Er hat uns vermisst.“

***

Dann kam der Bus.

Die Helfer installierten die Autositze und halfen dabei, die Kinder auf ihre Plätze zu bringen. Um die große Gruppe zusammensetzen zu können, bat ich ein deutsches Paar, sich woanders hinzusetzen, was sie gerne und mit freundlicher Miene taten.

***

Als ich zurück zu den Containern der ZOB-Angels kam, brachten gerade zwei Mitarbeiter des Vapiano 10 Schachteln Pizza vorbei. Ein Helfer erzählte mir, dass sie das jeden Tag kostenlos machen. Helfer und die wenigen noch anwesenden Flüchtlinge freuten sich über die großzügige Spende.

Da kaum noch Flüchtlinge da waren und ich ursprünglich so wie so nur kurz vorbeischauen wollte, verabschiedete ich mich wieder und ging nach Hause.

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