Tag 30: Dornach

Dienstag, der 19.01.2016.

An diesem Tag verbrachte ich drei Stunden in der Unterkunft. Es war ein ruhiger Nachmittag. Die meiste Zeit verbrachte ich im Eingangsbereich. Dort spielten mehrere junge Männer zusammen Tischtennis.

Begegnung 1

Ich sitze neben einem jungen Mann und schaue bei einer Partie Tischtennis zu. Irgendwie kommen wir ins Gespräch. Ich frage ihn, woher er kommt.

„Aus Halab (Aleppo).“, antwortet er.

Er hat eine silberne Kette um seinen Hals hängen. Der Anhänger zeigt die Karte Palästinas. Ich frage ihn: „Bist du Palästinenser?“

„Ja. Ein Palästinenser, der sein Leben lang in Syrien in einem Camp gelebt hat.“ Er fängt an, mir über die palästinensische Diaspora in Syrien zu erzählen. Ich erzähle ihm, wie ich Aeham den Pianisten aus dem Yarmouk Lager kennengelernt habe. Er ist auch Palästinenser und mittlerweile zu einem guten Freund geworden.

„Gibt es in Halab auch ein Flüchtlingslager für Palästinenser?“, frage ich ihn.

„Ja, es gibt dort sogar zwei. Nayrab und Handarat. Ich komme aus dem Camp Nayrab. Es ist, neben dem Yarmouk Lager in Damaskus, eines der beiden Flüchtlingslager, die komplett zerstört wurden.“

Wir sitzen noch eine Weile nebeneinander. Als die Partie endet, steht er auf und nimmt den Schläger von dem Verlierer entgegen. Er ist an der Reihe und beginnt mit dem Aufschlag.

Begegnung 2

Ein anderer junger Mann setzt sich zu mir und fragt, wann der offizielle Deutschunterricht beginnt.

„Das kann ich dir nicht genau sagen.“, sage ich. „Im Moment herrscht in Deutschland Deutschlehrermangel. Deshalb organisieren die Helfer hier regelmäßig den Unterricht.“

„Der Deutschunterricht, der hier organisiert wird, bringt aber nicht viel. Es wird fast jeden Tag der gleiche Stoff vermittelt. Richtige Fortschritte machen wir dabei nicht.“

„Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass viele nicht regelmäßig an dem Unterricht teilnehmen und die Lehrer dann immer wieder von vorne beginnen müssen.“, vermute ich.

„Ja das stimmt, viele kommen nur ab und zu.“, sagt er. „Einige haben auch Probleme, dem Unterricht zu folgen.“

„Vielleicht liegt es auch daran, dass einige noch nie einen Fuß in eine Schule gesetzt haben und nichtmal in ihrer eigenen Sprache ihren Namen schreiben können.“, sage ich.

„Ja, auch solche gibt es hier.“, stimmt er mir erneut zu. „Ich und einige andere hier haben jedoch Abitur und in Syrien studiert. Es ist sehr unbefriedigend, dass wir hier nicht gefordert werden.“

Mir kommt der Gedanke, dass man die Flüchtlinge im Idealfall –  auch abhängig von deren Voraussetzungen, die sie mitbringen und der Bereitschaft, sich zu investieren – unterschiedlich fördern sollte. Vielleicht durch eine Art „Elitekurs“.

„Was hast du in Syrien studiert?“, frage ich ihn.

„Ich habe zwei Jahre Chemie studiert. Dann habe ich das Studium abgebrochen, um aus Syrien zu fliehen.“

„Warum musstest du auf einmal fliehen? Ist es zu unsicher geworden?“

„Nein das nicht, aber das Regime hat die Regeln für die Einberufung zum Militär geändert. Früher wurden Studenten vom Dienst ausgenommen. Jetzt bekommt man sein Diplom nur, wenn man den Kriegsdienst antritt.“

„Warum haben sich die Regeln jetzt geändert?“

„Weil dem Regime um Bashar Al-Assad die Soldaten ausgehen.“

Begegnung 3

Ein Syrer bittet mich, mit ihm zum Arzt zu gehen. Seit Wochen schleppt er eine Erkältung mit sich herum.

„Sie geben mir nur ein paar Nasentropfen und Saft für den Hals. Das hilft aber nicht. Können sie mir nicht etwas besseres geben? In Syrien geben uns die Ärzte eine ordentliche Spritze Diclofenac und danach geht es besser.“

„Ich weiß, in Tunesien und auch in Frankreich bekommt man gleich einen Sack voll Medikamente, auch wenn man nur eine Kleinigkeit hat. Hier in Deutschland sind viele Ätzte zurückhaltender und vertrauen auf die Selbstheilungskräfte des Körpers.“

Der anwesende Arzt erklärt, dass sein Körper die hiesigen Krankheitserreger nicht gewohnt ist und die Krankheit selbst überwinden muss, um eine gewisse Immunität zu entwickeln. Er empfiehlt ihm, viel Flüssigkeit zu sich zu nehmen und zeigt dann auf die Füße des jungen Mannes und sagt:

„Er sollte sich auch etwas wärmer anziehen. In Flip-Flops bei dem Wetter ist es auch nicht verwunderlich, dass er seine Erkältung nicht loswird.“

Begegnung 4

Ich bin wieder bei dem Tischtennisbereich. Ein weiterer junger Mann kommt zu mir und fragt mich nach den Universitäten in Deutschland und was es hier für Unterschiede gibt. Ich versuche, den Unterschied zwischen einer Universität und einer Fachhochschule zu erklären, scheitere aber dabei, den wesentlichen Unterschied verständlich zu erläutern. Er fragt nach den Voraussetzungen. Dabei kommen wir bei dem Thema „Sprache“ auf den Sprachunterricht in der Unterkunft zu sprechen. Andere Syrer gesellen sich dazu und irgendwann fordern sie mich – halb ernst, halb scherzend – auf, den Deutschunterricht für sie zu machen.

Ich lache und sage scherzend: „Wenn ich euch unterrichten würde, dann nur so, wie bei uns in Tunesien: Nämlich mit einem Stock. Wer zu spät kommt, schwätzt oder seine Hausarbeiten nicht macht, der bekommt Schläge.“

Die Syrer lachen und einer sagt: „Ja, das ist wie bei uns. Wir wurden in der Schule auch geschlagen.“

Ich reibe meine Hände mit den Innenflächen stark aneinander und sage: „Habt ihr eure Hände vor den Schlägen auch so aufgewärmt, damit es weniger weh tut?“

Sie lachen, nicken und einer sagt: „Ja und nach den Schlägen haben wir unsere Hände an das Tischbein gehalten, damit die Kälte des Metalls den Schmerz lindert.“

Heutzutage ist in Tunesien und in Syrien das Schlagen in den Schulen verboten. Viele Lehrer tun es dennoch.

Obwohl das Thema grausam ist, lachen wir, während wir uns über diese Phase unseres Lebens unterhalten. Ich fühle mich in diesem Moment in meine Kindheit zurückversetzt. Und obwohl Tunesien tausende Kilometer von Damaskus entfernt ist, so stelle ich fest, dass wir als Kinder doch unter den gleichen gesellschaftlichen und systembedingten Missständen gelitten haben.

Irgendwie fühle ich mich den jungen Syrern in diesem Moment so nahe, wie noch nie.

Begegnung 5

Ein Mann um die 40 Jahre kommt zu mir und bittet mich, mit ihm zu den Johannitern zu gehen, um für ihn zu übersetzen.

„Meine Frau ist seit zwei Monaten in Deutschland. Sie hat eine Wohnung in Schöngeising. Ich bin einen Monat nach ihr hier angekommen und lebe jetzt getrennt von ihr. Ich möchte um Erlaubnis bitten, heute Nacht bei ihr zu übernachten, denn sie ist schwanger, krank und hat unsere drei Kinder bei sich, um die sie sich kümmern muss.“

Wir gehen zusammen zu den Johannitern und ich trage seine Bitte vor. Er sagt zu mir:

„Ich habe meine Kinder ein Jahr und fünf Monate lang nicht gesehen. Jetzt sind wir so nahe beieinander, aber ich muss in diesem Camp sitzen und darf nicht bei ihr wohnen.“

„Warum hast du deine Kinder so lange nicht gesehen?“, frage ich ihn, während die Mitarbeiterin der Johanniter in seinen Unterlagen wühlt.

„Ich war in Bulgarien im Gefängnis. Ich wurde wegen illegaler Grenzüberschreitung zu einem Jahr und drei Monaten verurteilt, davon habe ich zwölf Monate abgesessen.“

Ich übersetze den Anwesenden, was er mir erzählt. Die Frau, die mit seinen Unterlagen beschäftigt war und seit Tagen versucht, bei der Regierung einen Transfer für ihn zu erreichen, ist gerührt und sagt entschuldigend: „Ich bin Bulgarin. Das tut mir leid, was du dort erleiden musstest.“

Als ich ihm ihre Entschuldigung übersetze, schaut er sie überrascht an, grinst breit und fängt auf einmal an, bulgarisch zu reden. Sie ist überrascht und beide unterhalten sich eine Weile auf bulgarisch. Auf einmal wurde ich vom wichtigsten Bindeglied im Raum – dem Dolmetscher – zu einem Statisten degradiert, der nichts mehr verstand. Und doch musste ich grinsen. Seit Tagen unterhielten sich beide nur durch arabische Dolmetscher. Dann stellt sich auf einmal heraus, dass sie sich die ganze Zeit in einer anderen Sprache hätten verständigen können.

„Ich war Boxer. Ich war Boxchampion in Syrien. Im Gefängnis in Bulgarien habe ich auch an Turnieren teilgenommen. Außerdem war ich Trainer.“

Ich bitte ihn, mir von seiner Reise zu erzählen. Wir setzen uns in einen ruhigen Raum und ich stelle ihm ein paar Fragen:

„Wo kommst du her?“

„Aus Al-Hasaka.“

Sein syrischer Dialekt hat einen Akzent, den ich bisher nur bei Kurden aus Syrien beobachten konnte, also frage ich: „Ist das ein kurdisches Gebiet?“

„Ja, es leben dort viele Kurden.“

„Bist du Kurde?“

„Ja.“

„Warum bist du und deine Frau auf getrenntem Weg nach Deutschland gekommen?“

„Wir lebten zunächst ein paar Monate in der Türkei, doch das Leben ist hart dort. Wir werden schlecht bezahlt, auch wenn wir die gleiche Arbeit verrichten. Ich bin Fliesenleger und ich konnte von dem, was ich dort verdient habe, kaum überleben. Beispielsweise bekommen türkische Handwerker 10 Lira, uns zahlte man nicht mal 5. Also machte ich mich auf den Weg nach Europa. Ich ließ meine Familie dort, um sie dann später per Familienzusammenführung, nachzuholen.“

„Und warum warst du im Gefängnis?“

„Ich wollte über den Landweg, also über Bulgarien, nach Deutschland kommen. Ich überschritt die Grenze, jedoch wurden wir aufgefangen und vor Gericht gestellt. Dort wurde ich zu sieben Monaten auf Bewährung verurteilt. Sie entließen mich an der türkischen Grenze und schickten mich zurück in die Türkei. Dann überquerte ich die Grenze erneut, doch sie griffen mich wieder auf und stellten mich erneut vor Gericht. Da ich durch das vorherige Urteil als Vorbestraft galt, verurteilten sie mich diesmal zu einem Jahr und drei Monaten Haft ohne Bewährung. Sie steckten mich in ein Gefängnis voller Krimineller, Mörder, Dealer und Dieben. Dabei bin ich doch nur ein Flüchtling, der das Land durchqueren wollte. Es ist vielleicht gegen das Gesetz, aber habe ich solch eine Bestrafung verdient?“

„Wie war das Gefängnis?“

„In den ersten beiden Monaten kamen wir (meine Begleiter und ich) in Isolationshaft. Es war hart. Die Wärter sind dort sehr streng.“

„Hattet ihr Probleme mit den anderen Häftlingen?“

„Nein, eigentlich nicht, da alle Angst vor den Bestrafungen hatten.“

„Und dann? Haben sie dich wieder zurück in die Türkei geschickt?“

„Nein, ich saß zwölf Monate in Haft, danach haben sie mich frühzeitig entlassen. Sie sagten mir, ich könne hier einen Asylantrag stellen, doch ich wollte weiter. Dort gibt es keine Zukunft.“

„Wie sind die Bulgaren zu euch gewesen? Ich meine die Bevölkerung.“

„Es ist ein sehr armes Volk. Sie waren neutral, aber die Regierung und die Sicherheitskräfte sind sehr schlecht zu uns gewesen.“

„Wie ging es dann weiter?“

„Ich schickte meine Frau mit den Kindern auf den Weg und wartete in Bulgarien, bis sie in Deutschland angekommen sind. Wenn sie es nicht geschafft hätte, wäre ich zurück in die Türkei gegangen. Doch zum Glück hat sie es bis nach Deutschland geschafft.“

„Ist sie auch über Bulgarien geflohen?“

„Nein, sie ist mit den Kindern in ein Schlauchboot gestiegen. Ich wollte ihnen das, was mir in Bulgarien widerfahren ist, ersparen.“

„Wie alt sind deine Kinder?“

„Vier, zehn und dreizehn Jahre.“

„Gott sei Dank haben sie es unversehrt geschafft.“

„Ja, Gott sei Dank. Nur, warum muss ich hier wohnen? Warum kann ich nicht bei meinen Kindern sein? Mein Sohn weint jeden Abend, weil ich nicht da bin.“

Ich habe keine Antwort. Das frage ich mich auch: Warum nur?

2 Gedanken zu „Tag 30: Dornach“

  1. ad Begegnung 2:
    Ich habe mich reaktivieren lassen und arbeite einen Tag in der Woche – mehr geht nicht – mit Kindern einer 5. Übergangsklasse, als zusätzliche Lehrkraft.
    ad Begegnung 5:
    Das ist das verdammte bürokratische System, das keine Ausnahmen zulässt.
    Ich hoffe aber, dass sich jemand mit Kompetenzen findet, der den Herrn zu seiner Familie lässt.

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  2. Einen Deutschkurs für besonders Begabte und Engagierte würden auch die Afghanen sehr präferieren. Auch sie fragen immer wieder nach, ob es eine Möglichkeit gibt die unterschiedlichen Geschwindigkeiten auch in den Kursen ab zu bilden. Wäre toll wenn wir das mit den Lehrern und den Dolmetschern hinbekommen.

    Beste Grüße

    Hamid

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