Tag 31: ZOB

Montag, der 25.01.2016.

Ich habe mich an diesem Tag kurzfristig entschieden, für die letzte Schicht des Abends zum ZOB zu gehen. Es waren hauptsächlich Iraker und Syrer bei den Containern. Die anfangs relativ ruhige Schicht sollte bis Mitternacht dauern. Doch es kam anders und ich war erst um drei Uhr in der Früh zu Hause. Hier nun die Begegnungen dieses Abends.

Begegnung 1

Ich stehe an der Essensausgabe, als ein ca. 40jähriger Syrer kommt und um einen Tee bittet.

„Wo fährst du hin?“, frage ich ihn.

„Ich fahre zurück nach Frankfurt. Eigentlich wollte ich meine Familie abholen.“

„Sind sie hier in einem Camp? Durftest du sie nicht mitnehmen?“

„Nein. Sie sind gestern Abend in Deutschland angekommen, daher bin ich hergekommen, um sie hier abzuholen. Jedoch wurden sie in eine Bus gesteckt und in ein Camp nach Stuttgart gebracht.“

„Ist sie alleine unterwegs?“

„Nein, sie ist mit unseren fünf Kindern hergekommen.“

„Gepriesen sei Allah.“, sage ich – eine Floskel mit der Achtung ausgedrückt wird. „Da hatte sie ja eine schwierige Reise mit so vielen Kindern. Wie alt sind die Kleinen?“.

„Der älteste ist 18, das jüngste 4 Jahre alt.“

„Na dann hatte sie wenigstens einen jungen Mann bei sich, der ihr helfen konnte. Warum seid ihr getrennt gekommen?“

„Ich bin vor vier Monaten in Deutschland angekommen. Ich wollte einen Antrag auf Familiennachzug einreichen. Aber das dauert hier alles so lange, daher machte sie sich auf den Weg.“

„Was hast du in Syrien gemacht?“

„Ich bin Künstler und habe Mosaiken gemacht. Ich habe ganze Landschaften erstellt.“

„Wo hast du dort eigentlich gelebt?“

„Ich komme aus Rif Dimashq.“ Er schaut an mir vorbei. Sein Blick scheint verloren. Dann sagt er: „Die Menschen verkaufen dort alle ihre Häuser und fliehen.“

„Werden es mehr?“

„Ja, es werden immer mehr. Was bleibt uns dort? Dort gibt es nur noch den Tod. Du hast die Wahl: entweder du verlierst dein Haus oder du verlierst eines Tages vielleicht eines deiner Kinder.“

Begegnung 2

Ein junger Syrer steht neben mir vor dem Wärmeraum. Ich frage: „Wo kommst du her?“

„Aus Ladhiqiya“, antwortet er.

„Das ist die Stadt von Bashar El-Assad, nicht wahr?“

Er überlegt und sagt: „Eigentlich kommt Bashar aus einem Vorort von Ladhiqiya.“

„Ist Ladhiquiya nicht eine Hochburg seiner Getreuen?“

„Es leben dort vor allem sehr viele Turkmenen, die hauptsächlich Türkisch sprechen.“

„Interessant das war mir neu. Wo fährst du eigentlich hin?“

„Ich fahre nach Mannheim.“

„Seit wann bist du in Deutschland?“

„Ich wohne nicht in Deutschland. Ich lebe seit elf Monate in Schweden und bin auch dort registriert. Ich bin hergekommen, um meine Frau abzuholen. Sie ist gestern Abend in Deutschland angekommen. Doch von hier haben sie sie in einen Zug nach Mannheim gesetzt und im Moment kann ich sie nicht mehr erreichen. Ich hoffe bald wird sie irgendwo ein Wlan-Netz finden. Ich werde erstmal nach Mannheim fahren, in der Hoffnung, sie dort irgendwie zu finden.“

„Warum hast du keinen Antrag auf Familiennachzug gestellt. Ich dachte das geht in Schweden so problemlos.“

„Das war ursprünglich der Plan. Und früher ging das auch schneller in Schweden. Da hat man dafür sechs Monate benötigt. Heute muss man jedoch anderthalb Jahre warten. Und nun haben sich ihre Eltern auf den Weg gemacht und sie konnten sie nicht alleine zurück lassen.“

Begegnung 3

Eine alte Dame aus Syrien sitzt unter der Brücke an einem Biertisch und isst eine Suppe. Die Suppe sieht an diesem Abend sehr unappetitlich aus schmeckt jedoch köstlich.

Ich bringe der Dame etwas Brot und frage sie, ob sie ein bisschen Tee möchte.

„Ist das deutscher Tee oder arabischer?“, fragt sie mich vorsichtig.

Ich zögere und sage: „Das ist bestimmt Tee, wie sie ihn hier machen. Ich glaube nicht, dass sie arabischen Tee zubereiten. Ich bring dir eine Tasse, du musst ihn ja nicht austrinken. Wenigstens wird er dich ein bisschen wärmen.“

Als ich die Tasse Tee mit reichlich Zucker vor ihr auf den Tisch stelle, schaut sie das Getränk an und sagt lächelnd: „Das ist ja fast Wasser.“

„Ja, hier in Deutschland trinken sie ziemlich dünnen Tee. Nicht wie bei uns.“ Ich denke dabei an den tunesischen Tee, der so lange zieht und so voller Zucker ist, dass er einem das Gesicht zusammen zieht. Irgendjemand sagte mal zu mir halb im Scherz: In einem guten Tee muss der Löffel stehen.

Begegnung 4

Eine Gruppe junger Männer steht draußen und sie unterhalten sich. Ich stell mich zu ihnen und frage woher sie kommen.

„Aus Sindschar im Irak.“, antwortet einer.

„Seid ihr Jesiden?“, frage ich daraufhin, denn ich hatte bereits zuvor mit Irakern aus Sindschar gesprochen und erfahren, dass dort hauptsächlich Jesiden leben. Überrascht von meiner Frage antworten sie „Ja, das stimmt.“

Wir unterhalten uns eine Weile über ihre Reise, als einer von ihnen anfängt über den Angriff von Daesch (IS) zu reden.

Ich frage in die Runde: „Als Daesch Sindschar erobert hatte. Hattet ihr den Eindruck, dass sie beabsichtigten die Stadt zu regieren?“

„Sie haben am ersten Tag damit begonnen, die Stadt zu zerstören. Sie haben viele Menschen getötet. Es waren Monster. Als sie vertrieben wurden haben wir mehrere Massengräber gefunden. In einem lagen 80 Frauen, die über 40 Jahre alt waren.“

„Warum haben sie sie getötet?“

„Na ja, sie sind zu alt, um als Sklaven nützlich zu sein. Sie haben sie hingerichtet und gemeinsam vergraben. In einem anderen Grab lagen viele Kinder. Sie waren nur noch Haut und Knochen Teilweise reihten sie die Menschen auf und erschossen sie einfach.“

„Wie seid ihr entkommen?“

„Wir wohnten nicht direkt in Sindschar. Die Stadt liegt am Fuße des Sindschar-Gebirges. Wir wohnten in einem Dorf auf der anderen Seite. Daesch hat die Stadt angegriffen als alle schliefen. Einige Einwohner riefen uns an, um uns zu warnen. Wir sprangen in unsere Autos und verließen unsere Häuser sofort. Nicht mal mein Handy habe ich einstecken können.“

„Warum habt ihr euch nicht verteidigt?“

„In Mossul waren zwei Militärkorps, die beim Angriff von Daesch geflohen sind. Zwei ganze Korps, weißt du was das bedeutet? Die Bevölkerung von Sindschar sind einfache Menschen. Ich weiß nicht mal, wie man eine Waffe abfeuert. Die Kämpfer von Daesch sind kampferfahren und dazu schwer bewaffnet.“

„Wohin seid ihr geflohen?“

„Die meisten Einwohner von Sindschar sind nach Syrien geflohen und von da haben sie einen großen Bogen über die Türkei gemacht und sind nach Kurdistan geflohen. Einige Tausend sind jedoch in die Berge geflohen. Meist waren es die, die sich eine Flucht nicht leisten konnten oder zu stolz waren ihr Land zu verlassen. Daesch hat die Menschen dort lange belagert.“ Während er erzählt hören alle mit versteinerter Miene zu.

Er fährt fort: „Es gibt einen befestigten Weg, der auf das Gebirge führt. Ein Mann namens Qasim Derbu hat sich an einer Stelle mit einem Pickup mit montiertem Maschinengewehr positioniert und hat die immer wiederkehrenden Angriffe von Daesch abgewehrt.“

„War er alleine?“

„Nein. Seine sechzigjährige Mutter war bei ihm und hat mit ihm gekämpft. Sie hatte ihr eigenes Maschinengewehr. Nach dem Rückzug von Daesch haben die Einwohner von Sindschar ihm sogar ein Denkmal auf dem Berg gesetzt. Er ist heute ein respektierter Mann und hat sogar eigene Bodyguards.“

„Wer hat Daesch aus der Stadt vertrieben?“

„Es waren viele bewaffnete kurdische Parteien beteiligt. Die PKK, YPG, die Peschmerga.“

„Die PKK kommen aus der Türkei. Woher kommen die YPG?“, frage ich ihn.

„Die YPG kommen aus Syrien. Sie sind die verbündeten der PKK. Die Peschmerga sind die kurdischen Kämpfer aus dem Irak.“

„Und alle haben vereint gegen Daesch gekämpft?“

„Vereint würde ich das nicht nennen. Die PKK und die YPG sind eins. Die PKK und die Peschmerga sind jedoch zerstritten. Sie bekriegen sich zwar nicht, es gibt aber keinerlei Abstimmung zwischen ihnen.“

„Es gibt doch noch die Jesid Khans oder?“, frage ich. Von dieser Truppe erzählte mir ein anderer Jeside. Dass ich davon wusste, schien die jungen Männer erneut zu überraschen.

„Die Jesid-Khans sind erst später entstanden. Als Konsequenz aus dem Angriff von Daesch. Es sind lokale Kämpfer aus Sindschar. Es ist eine relativ kleine und schlecht bewaffnete Truppe.“

„Was hast du vor dem Krieg gemacht?“

„Ich war arbeitslos. Wir leben schon seit 12 Jahre im Krieg. Lange schon bevor Daesch erschienen ist.“

„Studieren die Menschen aus Sindschar nicht?“

„Die nächste Universität gab es in Mossul. Doch dort trauten wir uns nicht hin. Viele wurden ermordet. Als Kurden haben wir schon immer ein schwieriges Leben geführt. Hätten wir ein gutes Leben, hätten wir unser Land nie verlassen.“

Begegnung 5

Ich laufe nach einer Runde am ZOB Richtung Container zurück. Ein junger Mann – ich schätze ihn auf 20 Jahre – fragt mich nach der Uhrzeit. Wir kommen ins Gespräch und ich frage, woher er kommt.

„Aus Qamishli.“

„Bist du Kurde?“

„Ja und du? Bist du Ägypter?“

„Nein, ich bin Deutsch-Tunesier.“

Er grinst und sagt „Ah, sei über meinem Kopf (Ausdruck des Respekts). Schawali ist euer Mann.“ Ich muss lachen, weil er nicht der erste ist, der den sehr bekannten und beliebten tunesischen Fußball-Kommentator erwähnt.

„Wie ist es in Tunesien? Ist es dort ruhig?“, fragt er mich neugierig.

„Natürlich haben wir dort auch Probleme. Aber im Vergleich geht es uns gut und die Situation ist ruhig.“, Dann füge ich hinzu: „Zum Glück hat sich unser Esel schnell aus dem Staub gemacht.“

„Ja da habt ihr Glück. Unser Esel will nicht gehen. Er denkt das Land gehört seinem Großvater.“

Begegnung 6

Als wir uns gegen Mitternacht langsam auf ein Ende der letzten Schicht vorbereiten und Tische und Bänke wegräumen, kommt auf einmal eine Familie bestehend aus zwei Paaren mit jeweils zwei Kindern an. Zwei der Kinder sind krank und haben einen schweren Husten, der droht zu einer Lungenentzündung zu werden. Die Helfer entscheiden, einen Arzt aus der Rufbereitschaft der Ärzte der Welt zu rufen und ich werde gebeten als Dolmetscher auf den Arzt zu warten. Während die Kinder versorgt werden rede ich mit einem der Väter.

„Wo kommt ihr her?“

„Aus Deir-Ezzor.“

„Wann seid ihr in Deutschland angekommen?“

„Ich bin seit elf Monate in Deutschland. Ich habe schon meine Aufenthaltsgenehmigung. Meine Frau ist mit den Kindern erst gestern angekommen. Ich bin gekommen um sie abzuholen.“

„Heißt das, du hast deine Frau seit elf Monaten nicht gesehen?“

„Nein, viel länger, ich war erst in Libyen und habe dort als Maurer gearbeitet. Ich bin dann von dort nach Europa. Ich habe meine Hoffnung in den Familiennachzug gesetzt, die Prozedur ist leider viel zu langwierig.“

Ich schaute seine Frau an, die auf dem Boden auf einer Isomatte neben ihrer zweijährigen, kranken Tochter saß und fragte sie: „Und dann hast du die Kinder genommen und bist mit denen in ein Boot gestiegen?“

Sie lächelt verlegen und nickt nur mit dem Kopf.

„Sie ist mit einem Verwandten gereist.“, sagt ihr Mann und zeigt dabei auf das zweite Paar, die selbst auch mit zwei kleinen Kindern unterwegs sind.

Der Verwandte, der neben uns stand, fängt an von der Überfahrt zu erzählen: „Wir hatten hohen Wellengang. Es war sehr beängstigend. Dann blieb auch noch der Motor stehen. Wir riefen die Küstenwache. Sie sagten uns, dass sie uns beobachten und zur Stelle sein würden im Falle, dass wir anfangen würden zu sinken. Zunächst sollten wir jedoch versuchen erstmal selbständig weiter zu kommen. Eine Stunde später sprang der Motor dann auf einmal wieder an und wir erreichten die Küste.“

Später

Als alle versorgt sind, mache ich mich schließlich um halb drei auf den Weg nach Hause. Lange war ich nicht mehr so spät unterwegs und ich spüre, wie die Müdigkeit überhand nimmt. Im Auto tippe ich noch Details der letzten Begegnung in mein Handy. Dabei muss ich an die drei Männer von diesem Abend denken, die mir unabhängig voneinander erzählten, dass sie schon seit einigen Monaten in Europa sind und nun nach München kamen, um ihre Frauen und Kinder abzuholen. Diese haben aufgrund der erschwerten Familiennachzugsregelungen den lebensgefährlichen Weg über das Meer auf sich genommen, um dem Krieg zu entkommen.

Ich realisiere, dass die europäische Politik der Abschottung nicht dazu führen wird, dass weniger Menschen zu uns kommen werden, sondern dass sich nun auch die schwächsten eigenhändig auf den Weg machen und viele unter ihnen es schließlich mit ihrem Leben oder mit dem Leben ihrer Kinder bezahlen werden.

Die Würde dieser Menschen ist unantastbar.

Doch wo bleibt unsere Würde? Haben wir noch eine?

8 Gedanken zu „Tag 31: ZOB“

  1. Wahnsinn…das mit dem Massengrab muss öffentlich gemacht werden. Wenn alles vorbei ist muss man sie exhumieren. Welche Organisation in Bosnien hatte sich dort darum gekümmert? Die Frauen sind so alt wie ich.

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  2. Ich wünsche allen dafür verantwortlichen Politikern nur noch schlaflose Nächte oder schreckliche Albträume. Und von wegen, Männer müssen bleiben und ihr Land verteidigen – als Nicht-Soldat – wie? Mit der Bratpfanne oder dem Küchenmesser?

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  3. Es ist unfassbar ! Liest man diese Geschichten , wird man einfach nur wütend ! Albträume wünsche ich den Politikern ebenfalls, aber ich glaube, so mancher schläft ganz gut ! Leider !!!!

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  4. Ich würde so gerne mal alle „Zweifler“ und Politiker in die entsprechenden Länder schicken. Dann können sie sich alle selber ein Bild davon machen. Wie soll auch eine Familienzusammenführung klappen, wenn es in den meisten Kriegsländern gar keine deutsche Botschaft mehr gibt? Das ist alles so grausam und anstatt zusammen nach Lösungen zu suchen, führen unsere lieben Politiker und Politikerinnen ihren eigenen „Partei-Krieg“. Wenn alle Politiker sich selber bei der Flüchtlingshilfe engagieren würden, dann würde unsere Bürokratie auch funktionieren.

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