Tag 33: ZOB

Samstag, der 06.02.2016.

Sehr kurzfristig entschied ich mich wieder zur Spätschicht an den ZOB zu gehen, da sich für diesen Abend nur drei Helfer angemeldet hatten. Als ich ankam, befanden sich einige arabische Familien – Iraker und Syrer – in dem Wärmeraum. Es kam zu folgenden Begegnungen.

Begegnung 1

Gleich nach meiner Ankunft begleite ich ein junges Paar zu ihrem Bus. Während wir auf den Bus warten, geht der Mann auf die Toilette und ich bleibe mit der Frau und ihrem einjährigen Sohn zurück.

„Wo kommt ihr her?“, frage ich sie.

„Aus Halab“, sagt sie.

„Wann habt ihr Halab verlassen?“

„Vor zwei Jahren. Wir haben erst mit unseren Schwiegereltern in einer kleinen Wohnung in der Türkei gelebt. Dann haben sich meine Schwiegereltern auf den Weg gemacht. Nun sind wir hinterhergekommen.“

„Wo wollt ihr hin?“

„Nach Brüssel in Belgien. Ich hoffe, sie lassen uns über die Grenze. Ich mache mir ein wenig Sorgen.“

„Na ja, das Schlimmste habt ihr hinter euch. Dankt Allah dafür, dass ihr ohne weitere Probleme durch Osteuropa gekommen seid.“, sage ich.

„Wir danken Allah vor allem dafür, dass wir das Schlauchboot überlebt haben.“

„Oh ja, das glaube ich euch. War die Überfahrt schlimm?“

„Sie sagen dir, dass 40 Leute in das Boot einsteigen werden und dann bringen sie 70. Die Kinder sitzen zu den Füßen der Frauen und dazu kommt noch das Gepäck. Einige wollten nicht mal mehr einsteigen. Es waren mehrere junge türkische Männer, die uns das Boot brachten. Als sie es aus dem Transporter luden, sagte einer von ihnen: Los, geben wir ihnen ihren Sarg.“

Ich benötigte einige Zeit, um den makabren Zynismus des letzten Satzes zu verkraften. Dann frage ich: „Gab es Probleme bei der Überfahrt?“

„Das Boot war überfüllt und die Wellen zu stark, das Boot füllte sich mit Wasser und begann zu sinken. Doch Allah war uns gnädig und wir wurden durch die Küstenwache gerettet.“

Begegnung 2

Eine Familie – bestehend aus einer älteren Großmutter mit ihren beiden erwachsenen Söhnen und mehreren Enkeln – hält sich im Wärmeraum auf. Später kommen die Großmutter und einer der beiden Söhne nach draußen und setzen sich in die Nähe des Heizstrahlers. Ich frage die alte Frau:

„Wie geht es dir Hadjah“ (Hadjah bedeutet übersetzt Pilgerin und als solche werden meist – unabhängig davon, ob sie tatsächlich gepilgert sind oder nicht – ältere Menschen aus Respekt betitelt.)

„Danke mein Sohn. Alles ist gut.“

„Wo geht ihr hin?“

„Wir fahren nach Saarbrücken, um meinen Sohn zu besuchen.“, antwortet sie.

„Wir wohnen hier in einem Heim. Wir sind registriert und haben bereits unsere Ausweise.“, fügt ihr ca. 40-jähriger Sohn hinzu.

„Wie lange seid ihr schon in Deutschland?“

„Wir sind nun seit drei Monaten hier.“, sagt er.

„Da ging das aber ziemlich schnell. Ihr habt Glück gehabt. Andere haben nach drei Monaten nicht mal mit den ersten Schritten der Registrierung begonnen.“

„Gott sei Dank.“, sagt die alte Dame.

„Wie ist eure Unterkunft, seid ihr zufrieden?“

„Es ist ein Heim, kein Luxus, aber durchaus in Ordnung. Wir danken Gott dafür. Bis auf das Essen, das ist nicht so gut.“, sagt der Sohn.

Aufgrund meiner Erlebnisse aus dem vorherigen Bericht, frage ich: „Darf ich euch fragen wie eure Erfahrungen mit dem Sicherheitsdienst in eurer Unterkunft sind?“

„Das sind dort meistens Araber, viele Marokkaner, Tunesier auch Sudanesen. Sie sind sehr nett zu uns. Es gab mal Probleme mit einer tunesischen Mitarbeiterin. Wir haben uns beschwert, woraufhin sie versetzt wurde.“, sagt der Sohn.

Die alte Dame fügt hinzu: „Bis auf ein paar Ausnahmen sind sie sehr nett. Und alle kennen uns. Manchmal rufen sie uns zur Essenszeit und sagen: Kommt, heute ist das Essen gut. Dann gehen wir zum Essen. Manchmal sagen sie auch, dass das Essen schlecht ist, dann ersparen wir uns den Weg und mein Sohn geht uns was von draußen besorgen.“

„Woher kommt ihr eigentlich?“

„Aus Damaskus mein Sohn“, antwortet sie und ihr bis dahin recht zufriedener Blick trübt sich.

Begegnung 3

Ich stehe am Heizstrahler und tippe Stichpunkte zu dem Gespräch mit der alten Dame in mein Handy, als ein Mann zu mir kommt und mich fragt: „Entschuldige Bruder, ich habe eine Frage.“ Dabei zeigt er mir eine Karte auf seinem Handy und sagt weiter: „Wir fahren nach Gießen und wollen von dort weiter nach Dortmund. Meinst du, ich sollte die Tickets für die Weiterfahrt hier kaufen, oder reicht es, wenn ich dies in Gießen tue?“

„Hier sind die Ticketbüros bereits geschlossen. Am besten, ihr kauft eure Tickets dann in Gießen.“

Ich erkenne seinen irakischen Dialekt und er erzählt mir, dass er aus Bagdad kommt. Dann sagt er:

„Weißt du, ich wurde hier von einem Iraker betrogen.“

„Wie das?“

„Wir sind gestern aus einem Camp, das etwas außerhalb liegt, angekommen.“

„Meinst du Erding?“

„Ja genau. Wir sind von dort mit dem Taxi zu einer S-Bahn Station gefahren. Dort trafen wir einen Kurden aus der Region Kurdistan im Irak, der uns erzählte, dass er seit sechs Jahren in Deutschland lebt. Er zeigte uns sogar seinen deutschen Pass auf dem Sulaimaniya stand. Er sagte, dass seine Familie heute ankommen würde und er deshalb zum Ostbahnhof fahren wollte. Er bot uns an, uns zu helfen und sagte, dass er eine Karte hat, mit dem er Tickets 25% billiger kaufen konnte. Ich fragte ihn, warum er uns überhaupt hilft und er sagte, dass er für jedes Ticket das er kauft, Wertpunkte erhalten würde. Seine Erklärung erschien uns einleuchtend und wir haben ihm leider vertraut. Er warnte uns außerdem vor der Polizei, die an den Verkaufsstellen Flüchtlinge aufgreifen würde. Dann ging er alleine in das Büro für den Bahnticketverkauf. Er kam wieder und überreichte uns mehrere Tickets auf denen tatsächlich niedrigere Preise standen als die normalen. Wir zahlten ihm insgesamt 850 € für vierzehn Reisende. Später klärte uns ein junger deutscher Mann auf, dass dies keine Tickets waren sondern einfach nur Preis- und Zeitauskünfte.“

33 Falsche Tickets

Er zeigt mir seine vermeidlichen Tickets und schien, während er erzählt, betrübt und erniedrigt zu sein. Auch sein Bruder, der mittlerweile neben ihm stand, schien sich noch immer über die Situation zu ärgern.

„Wir waren dort aufgeschmissen und wussten nicht weiter. Allah hat uns dann eine Gruppe Tunesier geschickt, die uns geholfen haben. Sie haben uns hierhergebracht und den Helfern unsere Situation erklärt und mit den Tickets geholfen, möge Allah es ihnen vergelten.“

Wir reden noch eine Weile über den Betrug. Als ich anderen Helfern von der Geschichte erzählte, sagte man mir, dass dies bereits mehrmals geschehen ist und von mehreren Flüchtlingen, die am ZOB angekommen sind, erzählt wurde.

Später

Auf dem Weg nach Hause musste ich immer wieder an diesen einen Satz aus der ersten Begegnung an diesem Abend denken: „Los, geben wir ihnen ihren Sarg.“ Und mir wurde klar, dass die Schlepper nichts weiter als Totengräber sind und das Meer ein großer Friedhof.

Warum lassen wir das zu?

9 Gedanken zu „Tag 33: ZOB“

  1. Vielleicht solltet ihr nicht dauernd Allah danken. Diese antrainierte Schicksalsergebenheit ist im islamischen Kulturkreis nicht die geringste Ursache für dessen Scheitern auf ganzer Linie.

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    • Hallo Roland,
      dein Eindruck kommt sicher auch aus der Bedeutung des Wortes Islam. Denn es bedeutet, sich Allah zu ergeben und keinesfalls, wie oft behauptet Frieden. Allah ist zwar Frieden, aber Islam bedeutet sich ihm zu ergeben. Diese Tatsache verleitet oft dazu, Muslime als eine Herde willenlose Menschen zu bezeichnen. Doch ich versichere dir, es gibt unter den Muslimen nicht unbedingt mehr willenlose Lämmer, als es sie nicht auch in jedem anderen Kulturkreis gibt. Ein wichtiger Grundpfeiler des Glaubens ist, dass nur Allah weiß was die Zukunft bringt (Ilm ul Gaib) und ein anderer verlangt von den Menschen sich stets zu bemühen (Jihad). Das heißt der Mensch wird immer aufgefordert, sich zu bemühen, auch wenn seine Situation als aussichtlos erscheint. Sollte die Bemühung jedoch keine Früchte tragen, so akzeptieren wir das geschehene und versuchen die Situation danach weiter zu verbessern. Wir Muslime glauben auch, dass in jedem Negativen auch etwas Positives steckt und wir danken Allah dann für eben dieses Positive. Eigentlich verpflichtet uns unser Glaube indirekt dazu Optimisten.
      Viele Grüße
      Karim

      PS: ich glaube gerade die Leute, die sich aus ihrer Heimat bis hierher durchschlagen zeigen, dass sie sich nicht einem vermeintlichen Schicksal in Syrien ergeben, sondern sich bemühen ihre eigene Situation zu verbessern.

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  2. @Roland: Wie wär’s, wenn Du Dich nächste Woche mal kurz beobachtest? Wie oft sagst Du denn „Gott sei Dank“ oder „Oh, mein Gott“? Nur mal so als kleiner Vorschlag, damit man mal nachspürt, welche sprachlichen Auswirkungen das Christentum so bei den Bio-Deutschen hinterlassen hat. 😉

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  3. Vielleicht sollten wir uns aber auch ein Beispiel daran nehmen, dass man für die einfachsten Dinge, hier die Unterkunft in einer GU, dankbar sein kann.
    Dankbarkeit schadet nie und trägt nachweislich zum Glücksempfunden eines Menschen bei.

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  4. Roland Hinke, wir sagen doch auch „Gott sei Dank“ wenn etwas gut gelaufen ist – manche sicher von Herzen, die meisten einfach als Floskel, als Redewendung, keiner denkt darüber nach was sie bedeutet und ob er wirklich findet dass da jetzt ein Gott aktiv war dem man für irgendetwas danken muss. Ich würde solche Sprüche nicht automatisch bei jedem überbewerten (auch wenn es sicher – genau wie bei uns – einzelne gibt die tatsächlich der Meinung sind Ihr Schicksal liegt allein in der Hand ihres Gottes).

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