Tag 45: Der Aufständische – Teil 2

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Nach dem letzten Treffen versuchte ich, mit Freunden einen Termin in einem Krankenhaus zu organisieren, um sich über mögliche Therapieansätze für den querschnittsgelähmten Syrer zu informieren. Der Termin war schnell organisiert, jedoch mussten wir ihn leider wieder absagen, da wir uns zuerst um eine Genehmigung durch die Ämter kümmern müssen.

Am Donnerstag dem 23. Juni bereitete ich das Abendbrot vor und fuhr zu ihm, um bei ihm das Fasten zu brechen und weiter seiner Geschichte zuzuhören. Nach dem Essen – gegen 22 Uhr – fing er an zu erzählen.

(Teil 1 seiner Erzählung ist hier nachzulesen)

Erwachen

Als ich das Bewusstsein verlor, war ich schwer verletzt und mein letzter Gedanke war: Ich würde sterben. Drei Tage vergingen, bevor ich wieder zu mir kam. Als ich meine Augen öffnete, lag ich in einem komplett weiß bezogenen Bett, in einem weißen Raum und um mich herum waren auch alle Menschen ganz in weiß gekleidet. Mein Blick war trübe und meine Gedanken verwirrt. Noch immer war ich fest davon überzeugt, tot zu sein und fragte mich, ob so das Paradies aussehen würde. Ich ging davon aus, im Paradies gelandet zu sein, da ich mir nichts vorzuwerfen hatte. Ich starb bei der Verteidigung meiner Stadt. Oder zumindest dachte ich das. Dass die Menschen um mich herum türkisch sprachen, ließ mich jedoch zweifeln. „Im Paradies trennen die Menschen doch keine Sprachen“, dachte ich mir. Mein Kopf dröhnte. Immer, wenn ich meine Augen schloss und einnickte, hörte ich Schüsse und Schreie. Ein Mann in Weiß kam zu mir und sagte, dass mein Cousin mit mir telefonieren wollte. „Wie soll das gehen? Wie will er mich im Jenseits anrufen?“, wunderte ich mich. Mehrere Stunden vergingen, bevor meine Gedanken klarer wurden und ich mir nach und nach meiner Situation bewusst wurde.

Man erzählte mir, dass ich direkt am Tag meiner Verletzung nach Antakya in die Türkei gebracht wurde und drei Tage im Koma lag. Später, am gleichen Tag, riefen mich Verwandte an und dann kam mich auch eine Cousine besuchen, die in der Türkei lebte. Sie kam im Auftrag meiner Familie, um sich zu vergewissern, dass ich überlebt hatte und aufgewacht bin.

Mein rechter Arm war immobilisiert, da er in einem Gips war. Auch meinen linken Arm konnte ich wegen meiner verletzten Schulter kaum bewegen. Das Geschoss, das von oben in meine Schulter eindrang, zerlegte sich im Brustbereich in mehrere kleine Fragmente. Es ist ein Wunder, dass mein Herz nicht zerfetzt wurde. Meine Brust wurde hingegen verletzt und das Atmen viel mir schwer. Jedes mal, wenn ich bewegt wurde, musste ich vor Schmerzen weinen. Ich spürte vom Becken abwärts meine Beine nicht mehr. Zehn Tage lang verriet mir niemand, was mit mir war. Um mich zu beruhigen, erzählten sie mir, dass sie meine untere Körperhälfte wegen den Schmerzen betäubt hatten.

Dann bekam ich ein Gespräch zwischen einen Arzt und meinem Cousin mit. Der Arzt sagte auf türkisch: „Vier Wirbel wurden durch die Wucht des fragmentierten Geschosses beschädigt. Mehrere Knochensplitter sitzen im Knochenmark und verursachen seine Lähmung. Er muss operiert werden. Seine Genesung wird sehr lange dauern. Mindestens vier Jahre werden vergehen, bevor er wieder laufen kann. Und das auch nur, wenn er Glück hat. Aber dafür muss er erstmal richtig behandelt werden und sich mehreren OPs unterziehen, sonst gibt es keine Hoffnung für eine Genesung.“

Mein türkisch war relativ gut und ich verstand das meiste. Doch es war das Wort „felçl“ was mich am meisten getroffen hat. Es ist das türkische Wort für ‚gelähmt‘.

Später stellte ich meinen Cousin zur Rede und sagte ihm: „Lüg mich nicht an. Ich weiß, dass ich gelähmt bin. Warum versuchst du, es vor mir zu verbergen. Allah sei gepriesen! Das ist mein Schicksal und ich werde akzeptieren.“

In meinen Herzen flehte ich Allah um meine Genesung an. Doch die Vorstellung, vier Jahre lang in einem Bett liegen zu müssen, lastete anfangs schwer auf meiner Stimmung.

Am gleichen Tag kam ein Arzt zu mir, der im dort im Krankenhaus arbeitete. Er war Syrer und kam aus meiner Stadt. Er erzählte mir, dass er bereits vor über 30 Jahren aus Syrien geflohen ist. Damals in den 80er Jahren verübte das Regime in Dschisr asch-Schughur ein Massaker an der Bevölkerung. Dieses Massaker fand einige Zeit vor dem weitaus bekannteren Massaker in Hamah statt, bei dem mehrere zehntausend Menschen getötet wurden.

Er war sehr freundlich und nahm sich sehr viel Zeit, um über meine Verletzungen zu reden.

„So Gott es will, wirst du genesen. Es wird ein langer Weg werden, aber es gibt Hoffnung. Allerdings wirst du hier in der Türkei nicht die Behandlung finden, die dein Fall erfordert. Die besten Chancen wirst du in Europa haben. Wahrscheinlich in Deutschland. Oder aber in Jordanien, im Al Khalidi Medical Center. Du solltest versuchen, ein Visum zur medizinischen Behandlung für Deutschland und Jordanien zu beantragen.“

In der nachfolgenden Zeit versuchte ich, bei den Botschaften ein solches Visum zu beantragen. Sie sagten mir dort, dass es keine Möglichkeit gibt, mir ein solches Visum auszustellen, da ich keinen Reisepass besaß und ich jemanden in Deutschland benötige, der mich einladen müsste.

Das Krankenhaus, in welchem ich untergebracht wurde, war in Antakya, Hauptstadt der Provinz Hatay. Dort verbrachte ich anderthalb Monate, bis sich mein Zustand stabilisierte und die Gefahr innerer Blutungen gebannt war. Danach wurde ich in ein Flüchtlingslager in dem Ort Yayladagi, das nahe der syrischen Grenze liegt, gebracht.

In dieser Zeit hatte ich öfter Besuch von meinem Nachbarn, ein sehr guter Freund von mir. Er erzählte mir alles über die Vorfälle in unserer Stadt. Ich telefonierte auch viel mit anderen Freunden und Verwandten, um mich auf dem Laufenden zu halten und zu erfahren, was genau in den Wochen nach meiner Verletzung passierte.

***

Die Rettung

Nachdem ich angeschossen wurde, brachten mich einigen Cousins in einem Auto zum staatlichen Krankenhaus in Dschisr asch-Schughur. Als wir dort ankamen, hatte das gesamte Personal die Einrichtung bereits verlassen. Einzig einen Krankenpfleger trafen wir noch an, der jedoch gerade gehen wollte. Die Jungs stellten ihn zur Rede. Er erzählte, dass sie den Befehl von der Regierung erhalten hatten, niemanden von den Aufständischen zu behandeln. Daraufhin floh das gesamte Personal. Sollten sie sich dem Befehl widersetzten, würde ihnen oder ihren Familien der Tod drohen. Und so weigerte er sich zunächst auch, sich um meine Verletzungen zu kümmern. Als meine Begleiter drohten, ihn hinzurichten, verband er schließlich doch meine Verletzungen sodass es möglich war, mich weiter in ein anderes Krankenhaus zu bringen. Da das Personal auf deren Flucht keinen einzigen Krankenwagen zurückgelassen hatte, wurde ich wieder in einen PKW gelegt und zur türkischen Grenze nach Khirbat Al-Jouz gefahren. Dort standen Rettungswagen bereit, die mich nach Antakya in das Krankenhaus brachten. Dort stoppten die Ärzte in einer sechsstündigen OP meine inneren Blutungen und entfernten mehrere Fragmente des zersplitternden Geschosses aus meinem Brustbereich, bevor sich mich in die Intensivstation verlegten.  Dort verbrachte ich drei Tage im Koma.

Stürmung des Postgebäudes

In der Zwischenzeit und noch während ich mit dem Auto weggebracht wurde, eskalierte die Situation in der Stadt. Der Rest der jungen Männer machte die Position der Scharfschützen auf dem Dach und den Fenstern des Postgebäudes aus. Das Gebäude überragte den Park, in dem wir uns zuvor aufhielten. Es stellte sich heraus, dass die Männer, die versuchten, die Tür des Postgebäudes aufzubrechen, nicht –  wie angenommen -, die Computer stehlen wollten, sondern kurz vor dem Angriff, auf die Anwesenheit der Scharfschützen aufmerksam geworden sind.

Um das Postgebäude entwickelte sich eine kleine Schlacht. Zunächst gelang es den Jungs über das Nachbarhaus auf das Dach zu kommen und die dort positionierten Scharfschützen in das Gebäude zu drängen. Sie positionierten sich anschließend in dem obersten Geschoss und weiterhin aus den Fenstern auf die Männer, die nun alles daran setzten, die Scharfschützen zu töten. Es ging auf beiden Seiten ums Überleben. Die Jungs auf dem Dach ließen eine kleine, selbstgebaute Bombe durch den Schornstein an einem Seil hinunter und zündeten sie mit Hilfe einer langen Zündschnur. Den Sprengstoff, mit dem sie die Bombe bauten, hatten sie zuvor in einer Polizeistation erbeutet. Die Detonation im 3. Stockwerk tötete die dort verschanzten Männer des Regimes.

Eine Etage tiefer hatten sich mehrere Soldaten mit Maschinengewehren verschanzt und schossen auf alles, was sich draußen bewegte. Die einzige Möglichkeit, sie zu erreichen, war über ein enges Treppengelände. Mehrere Männer versuchten, über diesen Weg die Etage zu stürmen. Jedoch wurden sie jedes Mal durch Maschinengewehrsalven abgewehrt. Fünfzehn Männer sind bei dem Versuch gefallen, ohne einen einzigen Soldaten zu töten. Dann kam jemand auf die Idee, in der unteren Etage Autoreifen anzuzünden und das gesamte Gebäude auszuräuchern.

Drei Stunden lang brannte das Feuer. Dann ergaben sich die Soldaten und räumten das Gebäude. Sobald sie das Gebäude verließen, wurden sie hingerichtet. Bis dahin hatten diese Soldaten ca. 40 Menschen getötet und über 150 Leute schwer verletzt. Für Vergebung war zu diesem Zeitpunkt kein Raum mehr.

Menschen, die zuvor in der Umgebung des Postgebäudes festsaßen, verließen ihre Verstecke und machten nun auf den Weg nach Hause. Einige überquerten die Brücke, da sie auf der anderen Seite des Flusses wohnten. Plötzlich und mitten auf der Brücke brachen mehrere Menschen zusammen. Sie wurden durch Kopfschüsse erschossen.

Die Militärkaserne

Die Schüsse kamen von einer 300 m entfernten Kaserne der militärischen Sicherheitskräfte. Als die Männer, die zuvor beim Postgebäude gekämpft hatten, sahen, wie die Menschen starben, nahmen sie sich vor, auch diese Kaserne zu stürmen. Weitere Männer schlossen sich ihnen an. Es kamen mehrere hunderte junge Männer zusammen.

Es war Sommer und der Wasserpegel des Flusses war sehr niedrig. Daher wateten sie unter der Brücke, geschützt vor den Schüssen der Soldaten, durch das Wasser.

Die Kaserne war von eine hohen Mauer umgeben und beherbergte 126 Soldaten. Auf den Wachtürmen waren 10 Scharfschützen platziert und mehrere Männer mit Maschinengewehren verteidigten das Gelände.

Die Männer verteilten sich auf dem Gebiet um die Kaserne und versteckten sich hinter Bäumen. Ein Helikopter versuchte, die Männer zu beschießen. Im Schutze der Bäume waren die Ziele jedoch kaum auszumachen und die abgefeuerten Raketen trafen ins Leere.

Ein Mann, der zuvor ein PKC-Maschinengewehr erbeutet hatte, eröffnete das Feuer auf den Helikopter, als dieser über ihn hinweg flog. Wie durch ein Wunder brachte er ihn zum Absturz. Der Mann ist bis heute ein Held.

Mehrere Stunden lang lieferten sich die Männer mit den Soldaten ein Gefecht, ohne, dass sie vorankamen. Bis dahin waren bei dem Angriff 17 Männer durch die Kugeln der Scharfschützen umgekommen.

Am nächsten Morgen machten sie einen neuen Plan aus, um die Kaserne zu stürmen. Sie fuhren einen Bagger heran und schweißten Metallplatten um das Führerhaus. Dann bauten sie aus einer Tonne eine Bombe, die sie in die Schaufel des Baggers platzierten. Der Plan war, mit dem Bagger das Eingangstor zu zerstören und die Bombe im Inneren der Kaserne zum Explodieren zu bringen und dann das Gelände zu stürmen.

Gegen Mittag starteten sie den ersten Versuch, doch die Scharfschützen auf den oberen Türmen erschossen den Fahrer durch den Sehschlitz in den Metallplatten. Ein zwei weitere Fahrer versuchten ihr Glück, doch es ereilte sie das gleiche Schicksal.

Die Männer bauten den Bagger um. Am nächsten Morgen versuchte es ein vierter Fahrer. Diesmal erreichte er das Tor und durchfuhr es. Hinter dem Tor erwartete ihn jedoch eine Überraschung. In den beiden Tagen zuvor hatten die Soldaten einen 2 Meter tiefen Graben ausgehoben. Es war somit unmöglich, mit dem Bagger weiter in die Kaserne zu fahren. Der Fahrer kippte die Schaufel so, dass die Bombe über den Graben hinweg rollen konnte, setzte mit dem Bagger zurück und ließ die Bombe detonieren.

Ungefähr hundert junge Männer nutzten die Zerstörung und den aufgewirbelten Staub. Sie rannten auf das Tor zu, um die Kaserne zu stürmen. Doch sie vergaßen dabei, auf die Schützen in den Türmen und auf den Dächern zu achten. Die Druckwelle der Detonation ging an ihnen spurlos vorbei. Sie schossen auf die Angreifer und töteten die meisten von ihnen. Die wenigen Überlebenden zogen sich schnell wieder zurück.

Die Männer sahen ein, dass sie die Kaserne nicht ohne weiteres stürmen konnten, da die Soldaten besser bewaffnet und hinter den Mauern besser geschützt waren. Eine neue Strategie musste her. Sie versuchten, die Soldaten dazu zu bringen, die immer knapper werdende Munition aufzubrauchen. So ließen sie nachts zunächst fahrerlose Autos langsam gegen die Mauer der Kaserne fahren. Dann banden sie schwache Lichter auf die Rücken mehrerer Esel und schickten diese Richtung Kaserne. Immer wieder schossen die Soldaten auf die Autos und auf die Esel, in dem Glauben, dass sie Angreifer abwehren würden. Am nächsten Tag ging ihnen die Munition aus. Die Männer stürmten die Kaserne und töteten alle Soldaten.

In den Toiletten der Kaserne fanden sie insgesamt sechs Soldaten, die zuvor hingerichtet wurden, weil sie desertieren wollten.

Keine halbe Stunde nach der Eroberung der Kaserne, kam die Nachricht, dass sich eine Militärkolonne der Stadt näherte.

Die Militärkolonne

Nach den Informationen bestand die Militärkolonne aus 4 gepanzerten Fahrzeugen, zehn Pickups, drei russischen Zil-Militärlastkraftwagen und ungefähr zehn Bussen. Insgesamt waren es bestimmt um die 700 Soldaten. Die Männer machten sich auf den Weg, um der Kolonne eine Falle zu stellen. Sie suchten dafür eine Stelle aus, an der der Weg zwischen zwei kleine Bergen führte, auf denen sie sich positionierten. Neben der Straße wuchs Getreide, das zu dieser Zeit bereits trocken war. Sie verteilten Kanister voll mit Benzin auf dem Feld und warteten, bis sich die Fahrzeuge der Stelle näherten. Dann ließen sie große Steine auf die Straße fallen und eröffneten das Feuer. Aus der Kaserne hatten sie mittlerweile um die 140 Maschinengewehre erbeutet. Die Soldaten verteilten sich auf dem Feld, woraufhin die Männer die Kanister in Brand setzten. Die meisten Soldaten kamen im Feuer ums Leben.

Allein die Soldaten und Offiziere in den vier gepanzerten Fahrzeugen überlebten und ergaben sich. 15 Männer näherten sich ihnen und vereinbarten, dass sie mit ein oder zwei Pickups und ohne ihre Waffen davon fahren durften. Doch entgegen der Abmachung eröffneten die Soldaten das Feuer und erschossen die 15 Männer. Die Männer, die noch in den Bergen verborgen waren, eröffneten ihrerseits das Feuer und erschossen alle Soldaten.

Der Rückzug

Ab diesem Zeitpunkt war Dschisr asch-Schughur eine Geisterstadt. 17 Tage lang war die Stadt wie leergefegt. Die meisten Einwohner flohen in die Türkei oder in Dörfer an der Grenze. Kein Soldat betrat in dieser Zeit die Stadt. Einzig die jungen Männer blieben zurück, um das Eigentum der Menschen zu beschützen.

In dieser Zeit versammelte das Regime in Ishtabrak, einem nahegelegenen Dorf, das mehrheitlich von Alewiten bewohnt ist, ca. 14.000 Soldaten.

Am 17. Tag näherte sich das Militär mit 120 Panzern, mehreren hundert gepanzerten und ungepanzerten Fahrzeugen und 14.000 Soldaten der Stadt. Die jungen Männer, die die Stadt verteidigten, waren schlecht bewaffnet, unerfahren und zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen. Sie zogen sich deshalb aus der Stadt zurück und versteckten sich in den umliegenden Bergen oder flohen in die Türkei.

Das Militär nahm die Stadt widerstandslos ein Sie zerstörten über 100 Häuser, die angeblich Terroristen gehörten und beschlagnahmten andere Unterkünfte, in denen sie sich niederließen. Viele weitere Häuser wurden geplündert.

Von da an war die Stadt für mehrere Jahre fest in den Händen des Regimes. Ein Teil der Bevölkerung, vielleicht 30 % und größtenteils Anhänger des Regimes, kehrten in die Stadt zurück. Erst im Jahr 2015 gelang es der bewaffneten Opposition, die Stadt zu befreien.

***

Während all dies in meiner Stadt passierte, lag ich in der Türkei im Krankenhaus und konnte nichts machen. Ich verfolgte die Geschehnisse von weitem und erfuhr, dass mein Haus und das Haus meiner Eltern und Geschwister vom Militär geplündert wurden und als leere Ruinen zurück geblieben sind.

Anderthalb Monate nach dem Tag meiner Verletzung wurde ich also in ein Flüchtlingslager in dem Ort Yayladagi, das nahe der syrischen Grenze liegt, gebracht. Dort wurde ich direkt in ein großes Zelt mit anderen Verletzten verlegt. Ein einziger Krankenpfleger war für 25 Schwerverletzte zuständig und deshalb hoffnungslos überlastet. Es war Hochsommer und aufgrund der im Zelt herrschenden hohen Temperaturen und meiner zum Teil beschädigten Lunge wurde ich am fünften Tag auf Grund akuter Atemnot erneut in ein Krankenhaus eingeliefert.

Meine Familie hat zu dieser Zeit Syrien verlassen und ihnen wurde das Camp Al-Tannouz, ein besseres als das in Yayladagi, zugewiesen. Ich stellte einen Antrag und wurde gleich am nächsten Tag dorthin verlegt. Durch die Anwesenheit meiner Eltern und meiner Frau und Kinder, hat sich meine Situation etwas verbessert.

In dieses Camp kamen oft Menschen, um die Verletzten zu besuchen und ihre Hilfe anzubieten. Eines Tages besuchte mich eine belgische Delegation eines Vereins. Sie wurden von einem Syrer mit dem Namen Hassan begleitet. Sie informierten sich über meinen Zustand und versprachen, die Kosten für meine Behandlung zu übernehmen. Sie erklärten, dass der Syrer Hassan treuhänderisch über das Geld verfügen wird, um alle für meine Behandlung anfallenden Kosten zu übernehmen.

Kurz nach diesem Treffen wurde ich in das Daphne Hospital gebracht. Dort verbrachte ich 19 Tage, in denen mir lediglich regelmäßig meine Verbände gewechselt wurden. Ich bat Hassan, mich in ein anderes Krankenhaus verlegen zu lassen, was auch geschah. Doch auch dort wurden keine wirklichen Therapieansätze angeboten, um etwas an meinem Zustand zu verbessern. Ich sprach erneut mit Hassan und er versprach, sich um ein besseres Krankenhaus zu kümmern. Tage später wurde ich in das Camp zurückgebracht und von Hassan hörte ich seitdem kein Wort mehr. Ich versuchte, ihn über Tage immer wieder vergeblich zu erreichen.

Anderthalb Monate später kam ein junger Syrer zu mir. Dieser engagierte sich für verletzte Menschen und versuchte sie mit Spendern zu vernetzen. Er brachte mir ein Telefon und sagte, dass mich ein Dr. Mohammed aus Deutschland sprechen wollte. Zu meiner Überraschung hatte dieser Dr. meine Krankenakte und wusste alles über meinen Zustand. Er fragte mich, wie meine letzte OP verlaufen ist. „Welche OP, ich wurde nicht mehr operiert.“, antwortete ich.

„Du wurdest doch vor kurzem operiert. Dass hat uns zumindest Hassan, der sich um dich kümmert, erzählt.“

Es stellte sich heraus, dass Hassan meine Krankenakte bei mehreren Hilfs-Organisation eingereicht hatte mit einer Kostenschätzung von ca. 16.000 Euro. Eine belgische und eine deutsche Organisation beauftragten ihn daraufhin, für meine Behandlung zu sorgen und schickten ihm das Geld. Er täuschte Berichte vor und erzählte den Organisationen von Operationen, die niemals stattgefunden hatten und behauptete sogar, dass ich mittlerweile wieder laufen würde. Dr. Mohamed war außer sich. Er versprach, mich mit einem Arzt in Verbindung zu bringen, der eine Klinik in Istanbul hatte und Fälle, wie meine behandelte.

Nach diesem Gespräch blieb ich drei weitere Monate im Camp ohne dass sich etwas an meiner Situation änderte. Dann erhielt ich einen Anruf von einem Mann: „Ich habe einen Flug nach Istanbul für dich und für deinen Bruder reserviert. Morgen um 11 Uhr musst du am Flughafen sein. Ein Wagen wird euch in der Früh vom Camp abholen.“

Ich wusste weder wer der Anrufer war noch was genau mich erwartete und trotzdem sagte ich zu.

Am nächsten Morgen erwartete uns, wie angekündigt, ein Wagen vor dem Camp. Wir wurden zum Flughafen gebracht, wo wir in ein Flugzeug Richtung Istanbul einstiegen.

***

Unterdessen war es halb eins. Ich verabschiedete mich und machte mich auf den Weg nach Hause.

In den folgenden Tagen versuchte ich so viel wie möglich, von dem was er mir erzählt hatte zu verifizieren. Auch diesmal fand ich einige Informationen und mehrere Videos, die Teile seiner Erzählung untermauern. Natürlich konnte ich nicht alles überprüfen, vor allem nicht die Details und doch schien der grobe Rahmen zu stimmen. Festgestellt habe ich lediglich eine Neigung, Zahlen etwas zu übertreiben und die zeitlichen Abstände falsch einzuschätzen.

Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Erzählung von einem Gegner des Regimes stammt und seine Darstellung deshalb von den offiziellen Angaben abweichen wird.

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