Tag 47: Erding – Heimaufsicht

 

Der gesundheitliche Zustand von Samir, dem querschnittsgelähmten Syrer, dessen Geschichte ich zuvor erzählt habe, hat sich in den letzten Monaten gerade hinsichtlich seines Dekubitus weiter verschlechtert.

Eine Helferin, die beruflich als Pflegerin unterwegs war, hat ihn aufgrund meiner letzten Berichte am Freitag, dem 9.9. besucht. An diesem Tag lag der letzte Verbandswechsel bereits mehrere Tage zurück. Sie war von seinem Zustand sichtlich schockiert und beschrieb seinen Zustand in einem Bericht wie folgt:

„Die zahlreichen Dekubitus und Wunden, die Herr Abdo an Fersen, Außenknöchel, Mittelzehe, sowie Waden, Schienbeinen und Steiß aufweist riechen teilweise übel. Die Wunden werden mit einer Art Klebeverband versorgt, die gepolstert sind und das Wundsekret aufnehmen sollen. Darüber war mit Mullbinden fleißig gearbeitet worden, bis zum Knie. Diese waren so aus der Form und verrutscht, dass weder eine gute Durchblutung noch ein effizienter Saugschutz gegeben war.“

Am Montag, dem 12.09. rief mich Heidi, die Deutschlehrerin von Samir an. Diese sehr engagierte Helferin, unterrichtet ihn seit einigen Monaten und geht regelmäßig mit ihm spazieren und einkaufen. Am Telefon war sie sehr aufgewühlt. Sie erzählte mir, dass die Verbände immer noch nicht gewechselt wurden. Ihr Bericht zu diesem Tag lautete wie folgt:

„[…] Ich wollte mit Herrn Abdo mal wieder mit dem Rollstuhl raus. Es war ausgemacht, dass die Mitarbeiter Herrn Abdo mobilisieren. Ich kam schon etwas eher als abgemacht, um ihm neue Kleidung zu bringen. Seine Kleidungsstücke sind zum Teil verschwunden bzw. kommen aus der Reinigung nicht wieder zurück (was immer wieder mal vorkommt). Ich teilte ihm mit, dass die Schwestern gleich kommen, um ihn in den Rollstuhl zu setzen. Er sagte mir daraufhin, dass er erst in den Rollstuhl könnte, wenn seine Verbände erneuert wurden. Der letzte Verbandwechsel läge 7 TAGE zurück. Ich habe die Pflegerinnen angesprochen, diese sagten, dass die Verbände noch gewechselt werden sollten. Ich habe mich in der Zwischenzeit mit einem anderen Heimbewohner beschäftigt. Als ich zurückkam, sagte mir Herr Abdo, dass er wohl gewaschen wurde. Die Verbände aber nicht erneuert wurden. Ich habe die Heimleiterin sofort daraufhin angesprochen. Sie erklärte mir, Herr Abdo wäre am Freitag mit Verbandwechsel dran gewesen. Er hätte das aber verweigert und hätte die Mitarbeiterin aus dem Zimmer geschmissen…Und das sei somit nicht ihr Problem.[…]

Diese letzte Behauptung konnten wir jedoch widerlegen, da an dem besagten Freitag Heidi selbst mit der Pflegerin aus dem Helferkreis bei Samir war und sie auch noch vergeblich versucht haben, jemanden zu finden, der seine Verbände erneuern würde.

Anschließend drohte die Heimleiterin der Helferin noch ein Hausverbot zu erteilen, sollte sie nicht aufhören sich zu beschweren.

Heimaufsicht Erding

Die Situation bedrückte mich zutiefst. An diesem Tag war das Opferfest und wir erwarteten für den Abend Besuch, dennoch verbrachte ich mehrere Stunden damit eine Lösung zu finden. Ich rief mehrere Kontakte an in der Hoffnung einen provisorischen Heimplatz zu finden, leider waren meine Versuche in diese Richtung vergeblich. Nach mehreren Hinweisen entschied ich mich irgendwann spontan die Heimaufsicht in Erding anzurufen. Anders wusste ich mir nicht mehr zu helfen.  

Eine sehr nette Dame hörte sich meine detaillierte Beschwerde an und bat mich, ihr im Anschluss eine E-Mail mit Stichpunkten zu der Situation zu schicken. Ich schrieb einen ausführlichen Bericht, den ich ihr zusammen mit dem Bericht der Pflegerin schickte. Danach bat ich Heidi, die Deutschlehrerin, auch noch mal mit der Heimaufsicht zu telefonieren und ebenso einen Bericht einzureichen, was sie auch umgehend tat.

Am Mittwoch in der Früh, keine 48 Stunden nachdem ich die Beschwerde eingereicht hatte, rief mich Samir an und erzählte mir, dass die Heimaufsicht bei ihm im Zimmer wäre. Ich beruhigte ihn und bat ihn alles ruhig und wahrheitsgemäß zu erzählen.

Was bei diesem Besuch geschah gibt er wie folgt wieder:

„Es waren drei Frauen, begleitet von einem arabischen Dolmetscher, in meinem Zimmer. Sie waren alle sehr nett. Sie haben mir sehr viele Fragen gestellt, die ich alle beantwortet habe. Anwesend waren auch die Heimleiterin und deren Vertreterin. Sie schienen sehr beunruhigt. Immer wieder versuchten sie mich als Schuldigen dastehen zu lassen. Teilweise auch mit offensichtlichen Lügen. Zum Glück konnte ich ihre Anschuldigungen jedes Mal entkräften. Beide waren ziemlich durcheinander und hatten einen hochroten Kopf. Vor allem als ich das Verbandswechselprotokoll vorgelegt habe, dass ich in den letzten beiden Monaten geführt habe, wurden sie blass. Damit haben sie absolut nicht gerechnet. Ich glaube, sie haben sich überhaupt nicht vorstellen können, dass ich mich wehren würde.“

Zu dem Protokoll riet ich ihm schon sehr früh, als sich die schlechte Behandlung  abzeichnete. Immer wieder bat ich ihn alle Details zu einem  Verbandswechsels aufzuschreiben:  Datum, Uhrzeit, Pfleger und ob nur der Verband erneuert oder die Wunde auch gepflegt wurde.

Nach dem Gespräch mit der Dame von der Heimaufsicht untersuchten Vertreter des Gesundheitsamtes, die auch anwesend waren, seine Wunden. Ein Arabischdolmetscher, der die Gruppe begleitete, sorgte dafür, dass die Kommunikation reibungslos möglich war.

Traurige Erinnerungen

Am Abend des gleichen Tages machte ich mich auf den Weg nach Erding, um ihm ein zubereitetes Stück Lammfleisch, das ich vom Opferfest für ihn zurückgelegt hatte, zu bringen.

Ich fand ihn gut gelaunt vor. Die Tatsache das man ihm zuhörte und seine Beschwerden ernst nahm, gab ihm Hoffnung. Wir redeten über die Geschehnisse des Tages. Ausführlich beschrieb er die Reaktionen der Heimleitung und es war sogar  ein wenig Genugtuung zu verspüren.

„Ich ertrage das Unrecht nicht und könnte niemals schweigen. Eigentlich wollte ich mich mit denen ja gar nicht anlegen. Aber sie ließen mir keine andere Wahl.“

Während er aß unterhielten wir uns über seine Fortschritte in Deutsch, über andere Syrer in den Unterkünften und über seine Familie, die in der Türkei in einem Camp zurückgeblieben ist und dass er sie gerne bei sich haben würde. Irgendwann erzählt er etwas über seinen Bruder. Ich fragte ihn, wo dieser ist.

Er hob die Augenbrauen und sagte: „Er ist gefallen.“ und aß weiter.

Ich fragte mich, ob man sich nach fünf Jahren Krieg daran gewöhnt, dass ständig Verwandte sterben und sagte: „Wie ist das eigentlich? In Syrien sterben so viele Menschen, gewöhnt man sich daran? Wie war das als dein Bruder gestorben ist?“

„Er ist anderthalb Jahre nachdem ich verletzt wurde gefallen. Am 4.11.2012 während eines Kampfes gegen das Regime. Sie versuchten eine Straßensperre aufzuheben. Ihn trafen zwei Schüsse in der Brust.“

„Wie hast du davon erfahren?“

„Ich war in der Türkei und lag in einem Camp. Es erreichten mich Nachrichten, dass mein Vater getroffen wurde, also rief ich ihn an. Er ging ans Telefon und sagte, dass es ihm gut ginge. Dann legte er auf. Kurz darauf kam meine Mutter zu mir und bat mich, meinen Vater erneut anzurufen. Ich sagte ihr, dass ich gerade mit ihm gesprochen hatte und dass es ihm gut ginge. Darauf sagte sie: Es geht nicht um deinen Vater. Es ist dein Bruder.

Ich rief meinen Vater erneut an. Als er abhob, fragte ich ihn: Bei Allah, wo ist mein Bruder? Was ist mit ihm geschehen?

Er antwortete: Bete zu Allah, er möge ihm seine Fehler vergeben und barmherzig mit ihm sein.“

Samir hörte auf zu erzählen. Er drehte seinen Kopf zur Seite und weinte lautlos. In dem Moment wusste ich, dass trotz Krieg die Menschen sich nicht an den Tod gewöhnen. Ich bereute es, ihm die Frage gestellt zu haben.

„Es tut mir leid. Lass uns über was Anderes reden.“, sagte ich.

Er wischte sich die Tränen aus den Augen, ignorierte meinen letzten Satz und sagte: „An diesem Tag spürte ich das erste Mal, das ich behindert war. Mein Bruder hat immer alles für mich getan. Er war meine Augen und meine Ohren. Durch ihn bekam ich alles mit, was draußen und vor allem in Syrien geschah. Er setzte sich für mich ein und besorgte mir alles was ich benötigte. Nun ist er tot und ich liege mit Behinderung hier. Ich wünschte ich wäre damals gefallen und er würde weiterleben.“

Eine Weile blickte er ins Leere während ich schweigend seine Worte verarbeitete. Dann schaute er mich an und sagte: „Dann werde ich mal weiter essen.“

Als er fertig war mit dem essen, redeten wir noch eine Weile über verschiedene Themen, bevor ich mich schließlich verabschiedete. Bevor ich ging sagte er: „Möge Allah dich beschützen und böse Menschen von dir fernhalten.“ Scherzend fügt er dann noch hinzu: „Solche, wie die Heimleitung hier.“

Ich erwidere seinen Scherz und sagte: „Ach die machen mir keine Angst. Ich habe lange Jahre Taekwondo gemacht. Ich kann mich verteidigen.“

Ungläubig schaute er mich an und fragte mich, wie lange ich trainiert hatte. Es schien ihn sehr zu interessieren.

„Zehn Jahre. Aber ich habe vor vier Jahren aufgehört. Keine Zeit mehr. Warum fragst du?“

„Ich habe anderthalb Jahre trainiert, bevor ich damals zum Militärdienst einberufen wurde. Ich liebte diesen Sport.“ Stolz erzählte er mir von seiner Lieblingstechnik. „Momdolyo Chagi“, einem Tritt mit vorangegangener Drehung. Dann zeigte er mir eine Abwehrtechnik mit der Hand und schließlich zählte er auf Koreanisch bis Zehn. Wir redeten noch ein bisschen über den Sport und als ich ging sagte er: „Ich bin so glücklich, dass wir etwas gemeinsam haben. Das hätte ich nicht gedacht.“

Ich wusste, dass es von Herzen kam, ich fühlte aber auch seinen Schmerz. „Möge Allah dich genesen lassen.“, sagte ich hilflos. „Vielleicht können wir eines Tages miteinander trainieren.“

Ich verließ sein Zimmer und fühlte mich elend. Sowohl die Geschichte über seinen Bruder, als auch das Gespräch über einen Sport, den er liebte, aber womöglich nie wieder betreiben werden kann, ließen mir keine Ruhe.

Die Last

Als ich im Auto saß musste ich an eine ähnliche Situation denken, die ich Tage zuvor erlebt hatte:

Zum Opferfest lud ich ein paar Freunde ein. Unter anderem auch den syrischen Anwalt und seine Frau, die durch eine Fassbombe schwer am Arm verletzt wurde und ihren Arm wohl nie wieder richtig bewegen werden kann. Als sie in unser Wohnzimmer kam, erblickte sie das E-Piano meiner Frau. Sie strich mit den Fingern ihrer gesunden Hand drüber und klimperte ein bisschen unbeholfen auf den Tasten und sagte dann: „Ich habe immer davon geträumt einmal Klavier spielen zu lernen.“ Anders als Samir, sah man ihr die Verbitterung an, denn diesen Traum hatte sie begraben müssen.

Als ich über die Landstraße von Erding zurück nach München fuhr, spürte ich eine Last auf mir. Die Last der Schicksale, deren gesamten Umfang ich in Wahrheit nur erahnte. Ich fühlte mich machtlos und schwach. Im Radio erklang das „Human“ Lied von Rag’n’Bone Man. Irgendwie schenkt es mir in diesem Moment Trost. 

Some people got the real problems
Some people out of luck
Some people think I can solve them
Lord heavens above
I’m only human after all, I’m only human after all

 

 Teil 5 seiner Geschichte ist hier zu nachzulesen 

6 Gedanken zu „Tag 47: Erding – Heimaufsicht“

  1. Ich verfolge deinen Blog regelmäßig: danke fürs „Nicht wegschauen“, danke für die detailreichen Berichte über all die Widrigkeiten und Nöte, die Menschen in die Flucht zwingen. Und Dank für die Hinweise darauf, daß schon Kleinigkeiten wie Lächeln, Zuhören, Reden oder einfachste/billige Dinge schon soo viel helfen können. Las gerade eine ähnliche Bemerkung des Musikers Malky: wenn jeder ein bisschen den Sysiphos-Stein Richtung Frieden rollen hilft …

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  2. danke für’s „Dranbleiben“.
    Ich fürchte, dass nur das Samir helfen wird, eine auch nur halbwegs vernünftige Versorgung zu erhalten.

    Wie ging die Geschichte weiter?
    Irgendwie zweifle ich daran, dass das schon das glückliche Ende war….

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    • Von einem Glücklichen Ende sind wir weit entfernt. Leider muss er auch immer wieder Rückschläge einstecken. Dennoch versuchen wir ihm weiterhin das Leben etwas leichter zu machen. Es wird auch einen weiteren Artikel zu seiner Lage geben. Ich muss damit jedoch aus noch ein bisschen warten, bis sich einige Sachverhalte klären, über die ich jetzt noch nicht schreiben kann.

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