Überall in der arabischen Welt brennt es. Vor allem in den Ländern des arabischen Frühlings herrscht Chaos, Zerstörung, Tod. Einzig Tunesien schien der Übergang in ein demokratisches Regierungssystem zu gelingen. Doch seit einiger Zeit mehren sich gewalttätige Vorkommnisse im Land. Bewaffnete verschanzen sich in den Bergen und liefern sich Gefechte mit Sicherheitskräften, Terroristen töten wahllos Touristen, und jetzt versuchen sie sogar im Süden des Landes eine Militärkaserne zu erobern.
In diesem Artikel gebe ich meine eigene, persönliche Einschätzung der Lage in Tunesien wieder. Es ist kein neutraler Artikel und beinhaltet auch keine Erzählung eines Flüchtlings. Den aktuellsten Artikel aus meinen Begegnungen mit Flüchtlingen kann man hier lesen.
Droht das Land zu kippen?
Der eine oder andere mag Tunesien das gleiche Schicksal wie Ägypten, Libyen, Jemen oder gar Syrien voraussagen. Ist dies ein realistisches Szenario?
Natürlich kann diese Frage niemand sicher beantworten, denn vieles geschieht im Verborgenen und doch glaube ich: Nein, Tunesien ist anders. Tunesien wird vielleicht schmerzhafte Schläge einstecken müssen, dennoch wird es nicht im Chaos versinken. Davon bin ich aus folgenden Gründen überzeugt:
Homogenes Volk
In Tunesien gibt es hauptsächlich eine ethnische und religiöse Gruppe. Fast alle Tunesier gehören dem sunnitischen Islam an. Tunesien unterscheidet sich damit stark von Syrien (Sunniten, Schiiten, Alewiten, Kurden), Jemen (Sunniten, Schiiten), Ägypten (Sunniten, Kopten), und auch vom Irak (Sunniten, Schiiten, Kurden). Konflikte die auf solche Unterschiede bauen, können nicht entstehen und sich auch nicht hochschaukeln.
Unbedeutende Stämme
In Tunesien kennen wir zwar historisch gesehen auch Stämme und Großfamilien jedoch spielen diese kaum noch eine gesellschaftliche Rolle, wie es zum Beispiel noch sehr stark in Libyen der Fall ist.
Moderate „Islamisten“
In Tunesien gibt es aus meiner Sicht mehrere islaminspirierte politische Bewegungen (ich mag den Begriff islamistisch nicht).
Die Nahdha Partei ist eine konservative Partei, die schon in der Vergangenheit bewiesen hat, abgesehen vielleicht von Einzeltaten, dass sie eher das Exil wählen würde, als den bewaffneten Kampf. Außerdem hat sie auch nach der Revolution bewiesen, dass sie im Stande ist bei Wahlverlust die Macht abzugeben. Schließlich ist sie kompromissbereit bis hin zur Bereitschaft eigene Grundwerte aufzugeben.
Neben der Nahdha-Partei gibt es im Land auch einige recht einflussreiche Prediger (Cheikh Bechir Ben Hassan oder Cheikh Ridha Jawadi), die oft dem salafistischen Spektrum zugeordnet werden. Doch auch diese schätze ich als relativ moderat ein. Keiner ruft zum bewaffneten Kampf auf oder greift auf das Takfir zurück (für ungläubig erklären).
Dann gibt es noch Hizb-Attahrir. Eine relativ kleine Partei, die die Idee des länderübergreifenden Khalifats vertritt. Doch auch von dieser Partei habe ich bisher nie gehört, dass sie diese Forderungen mit Waffengewallt durchsetzen wollen. Sie wollen eher auf politischem Weg sowas wie eine islamische EU erreichen.
Weltpolitisch unbedeutend
Tunesien hat weder Grenzen zu Israel noch zum Iran und ist zudem von der Fläche sehr klein. Weltpolitisch ist es damit eher unbedeutend.
Kaum Bodenschätze
Es gibt in Tunesien kaum Reichtümer, mit denen die Interessen anderer Mächte auf sich gezogen werden. Vor allem verfügt Tunesien kaum über Erdöl, zumindest nicht offiziell.
Das Militär
Das tunesische Militär besteht vor allem aus den Armen der Gesellschaft. Es spielt weder wirtschaftlich noch politisch eine nennenswerte Rolle, wie es der Fall in Ägypten ist. Während der Revolution hat es bereits seine absolute Neutralität und Volksnähe bewiesen. Jeder Tunesier kennt das Bild des Soldaten, der während der Revolution die Menschen, die für ihre Freiheit demonstrierten, salutierte.
Das Volk
Persönlich kenne ich niemanden der die Anschläge oder Übergriffe im Land gut heißt. Viele junge Leute melden sich nach den Anschlägen sogar freiwillig beim Militär, um das Land zu verteidigen.
Die Menschen setzen teilweise ihr eigenes Leben aufs Spiel, um bewaffneten Angreifern das Handwerk zu legen. Als in Hammamet mehrere Touristen getötet wurden, haben mehrere Junge, unbewaffnete Männer die Verfolgung der Terroristen aufgenommen. Ähnliche Videos gab es bei anderen Vorfällen und jetzt auch wieder aus Ben Guerdane.
Woher kommen dann überhaupt die Angriffe?
Natürlich stellt sich diese Frage: Wenn alles so ist, wie ich es schreibe, warum gibt es dann doch solche Angriffe? Man darf nicht vergessen, dass in Libyen, Tunesiens Nachbar, Chaos herrscht. Waffen sind einfach über die Grenze zu schmuggeln und eine Destabilisierung Tunesiens könnte einigen Kriegsparteien in die Karten spielen. Und schließlich gibt es auch in anderen stabilen Ländern Anschläge. Man denke nur an Paris.
Nein, Tunesien wird nicht im Chaos versinken! Tunesien ist anders!
So Gott es will!
Ich glaube auch, dass Tunesien es langfristig schafft, vor allem weil der Westen sich hier nicht eingemischt bzw. nichts kaputt gebombt hat.