Tag 0: Richelstraße

Heute vor genau einem Jahr machte ich mich das erste Mal auf den Weg, um zu helfen. Nachdem ich Tage zuvor in den Nachrichten sah, wie Menschen, die mehrere Wochen lang in Ungarn unter unmenschlichen Umständen ausharrten, am Münchener Hauptbahnhof mit offenen Armen empfangen wurden, suchte ich nach Möglichkeiten selbst aktiv zu werden.

Durch Zufall stieß ich am 5.09.2015 auf der Webseite des Islamischen Zentrums in München auf einen Spendenaufruf. Neben den benötigten Spenden wurden auch weitere Möglichkeiten zum Helfen aufgelistet, unter anderem auch das Dolmetschen.

Gemeinsam mit meiner Frau sortierten wir unseren Kleiderschrank aus und packten alles, was wir seit einem Jahr nicht mehr angezogen hatten, in einen großen Koffer. Am nächsten Tag brachte ich diesen zusammen mit meiner kleinen Tochter zur Moschee.

Dort sortierten mehrere Frauen und Männer in einem großen Zelt, das im Garten des Zentrums aufgestellt worden war, die Spenden. Das Zelt, war voller Tüten, Taschen und Koffer mit Kleidungsstücken, Spielzeugen, Hygieneartikeln und anderen Spendensachen. Ich fragte Ahmad Al-Khalifa, den Leiter der Moschee, wo ich noch helfen könnte. Er empfahl mir in die Richelstraße zu gehen, weil dort Dolmetscher dringend benötigt wurden.

Da die Richelstraße auf meinem Heimweg lag, entschied ich mich kurz vorbeizuschauen, um mir ein Bild von der Lage vor Ort zu machen. Ich war mit der S-Bahn unterwegs und stieg mit meiner Tochter an der Donnersberger Brücke aus. Der Weg zur Notunterkunft in der Richelstraße war vom S-Bahnhof aus durch ein Absperrband ausgewiesen. Während ich dort entlang lief legte sich meine dreijährige Tochter, wie sie es sonst auch macht, über den großen Koffer und ließ sich von mir ziehen. Schon nach wenigen Metern merkte ich die ungewöhnlichen Blicke der Passanten. Mir wurde jedoch erst klar, was diese Blicke bedeuteten als ein älteres Paar, das an uns vorbeilief, uns freundlich zuwinkte. Mit meinem großen Koffer und dem Kind, das darauf lag, hielten mich die meisten anscheinend für einen jener Menschen, die mit ihrer Familie geflohen sind. Ich musste schmunzeln.

Als ich in der Richelstraße ankam, ging ich auf einen Sanitäter des BRKs der neben einem Rettungswagen vor der Notunterkunft stand zu und fragte, wie ich helfen kann. Bevor ich jedoch anfing zu sprechen, erklärte er mir mit großen Gesten und schlechtem Englisch, wo ich mich hinbegeben muss, um etwas zu essen zu bekommen und mich auszuruhen: auch er hielt mich und meine Tochter für Flüchtlinge.

Nachdem ich das Missverständnis aufgeklärt hatte, bat er mich mit einer Helferin zu reden, die sich um die Organisation der Freiwilligen kümmerte. Und obwohl es schon eine Art Schichtplan gab, um die große Anzahl an Helfern einzuteilen, bat sie mich zu kommen, wann immer ich konnte ohne mich unbedingt vorher einzutragen, da meine Arabischkenntnisse immer gebraucht würden.

Nach dem Gespräch ging ich erst mal nach Hause. Zu meinem ersten Einsatz kam es dann am nächsten Abend, am Montag dem 7. September. Bei meiner Ankunft bekam ich Warnweste und wurde der Kleiderausgabe zugeordnet. Dort lagen große Mengen Kleider, mehr oder weniger sortiert, auf Biertischen und Bierbänken. Alle Helfer, die dort waren, schienen neu zu sein. Niemand wusste genau wie es laufen sollte und bevor wir uns richtig einrichten konnten, kamen auch schon die ersten Flüchtlinge rein, die ausgestattet werden sollten. Dem einen fehlten Schuhe, die anderen brauchten eine Jacke, Hose oder Unterwäsche. Wir wühlten uns durch die Berge an Kleidung und gaben den Menschen über den improvisierten Tresen hinweg, was sie benötigten, sofern es in der richtigen Größe vorhanden war.

Zu diesem Zeitpunkt war ich der einzige arabischsprechende Helfer in der Kleiderausgabe und ich merkte schnell, dass es doch vieles einfacher machte. Immer wieder sollte übersetze ich anderen Helfern was benötigt wurde und vor allem in welcher Größe. Begriffstabellen mit Piktogrammen gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Auch wenn der Anfang etwas holprig verlief, so fingen wir doch schnell an, unsere Arbeit zu optimieren. Wir ordneten die Hosen und Jacken erneut nach Größen und sortierten gleichzeitig unnütze Kleidungsstücke, wie zum Beispiel Lederhosen, Dirndl und Schneeanzüge aus. Eine junge Helferin, ich schätze sie auf 17 oder 18 Jahre, schnüffelte ohne Berührungsängste an den gespendeten Schuhen, um die nicht mehr zumutbaren Paare auszusortieren. Bis heute habe ich großen Respekt vor ihrem Einsatz, nicht nur, weil mich der stechende Geruch einiger Exemplare fast erstickt hätte, sondern auch weil ich mich wunderte, dass so junge Menschen so viel Demut zeigen, um eine solche Arbeit aus purer Hilfsbereitschaft zu leisten.

Neben der Kleidung gab es auch Berge an Zahnbürsten, Zahnpasta, Rasierern, Seife, Windeln und anderen Hygieneartikeln. Irgendwann stellte eine Helferin fest, dass sich niemand Binden oder Tampons nahm. Da wir vermuteten, dass die meisten Frauen sich schämten, offen vor fremden Männern zu solchen Artikeln zu greifen, schlug jemand vor, vorgefertigte Hygienebeutel zusammenzustellen, die wir dann an alle Frauen verteilten.

Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie lange ich an diesem Abend blieb. Es müssen ein paar Stunden gewesen sein. Woran ich mich jedoch genau erinnern kann, war die Müdigkeit in den Gesichtern. Und es waren vor allem die Frauen, die mich bewegten, viele Mütter, viele ältere Damen. Einige erinnerten mich an meine eigene Mutter. Es machte mich traurig, sie so zu sehen. Stolze Frauen, die unverschuldet auf unsere Hilfe angewiesen waren. Und auch wenn ich mich fragte, wie wohl ihr Leben bisher aussah, so führte ich an diesem Abend kein einziges Gespräch.

0 EssensbereichAls ich ging, waren noch sehr viele Helfer anwesend. Ich durchquerte die Halle, wo die Menschen direkt nach ihrer Ankunft eine Kleinigkeit essen konnten. Der Raum wurde gerade wieder aufgeräumt und auf die Ankunft der nächsten Gruppe vorbereitet.

An diesem Abend wusste ich, dass ich mich weiter engagieren würde. Wie sehr sich mein Leben in den nächsten Monaten verändern würde, war mir dabei jedoch noch nicht Bewusst.

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