Tag 14: Dornach

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Montag, der 26.10.2015.

Am Montag habe ich mich mal wieder auf den Weg in die Notunterkunft in Dornach gemacht. In der Nacht zuvor sind 650 Menschen angekommen und weitere Busse wurden angekündigt. Insgesamt sollten bis zu 1400 Gäste untergebracht werden. Ich kam um 17:30 Uhr an und verbrachte den Abend dort bis 1 Uhr. Da ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs war, musste ich um diese Zeit gehen. Ich habe einen Großteil des Abends für die Sanitäter der Johanniter übersetzt. Folgende Begegnungen habe ich gemacht:

Begegnung 1

Ein Mann kommt mit seiner Frau auf mich zu. Sie fragen mich, wie lange sie hier noch bleiben werden und wohin man sie bringen wird. Ich sage ihnen, dass ich das nicht weiß und es ihnen auch niemand sagen kann, da es wahrscheinlich noch nichtmal diejenigen wissen, die es entscheiden müssen. Mehr als einen oder zwei Tage sollten sie in dieser Unterkunft jedoch nicht verbringen.

Die Frau sagt zu mir: „Bruder… bitte, ich möchte deine ehrliche Meinung. Wir wissen, dass du es nicht genau sagen kannst. Aber sag uns, was du aus deiner Erfahrung heraus denkst.“

„Ich sage euch was ich weiß. Ich mache hier niemanden was vor.“

„Uns sind noch 400 € übrig geblieben. Wir überlegen, ob wir damit irgendwohin gehen sollen, wo nicht so viele Menschen sind. Verstehst du? Unser Ziel ist es, nicht so lange warten zu müssen.“

„Wollt ihr in Deutschland bleiben?“, frage ich.

„Ja, wir denken schon. Das Wichtigste ist, dass unsere Kinder in die Schule gehen dürfen und etwas lernen. Sie dürfen hier doch in die Schule, oder?“

„Wie alt sind sie denn?“

„Acht und zehn Jahre alt.“ (Ich bin mir bei dem Alter der Kinder nicht mehr ganz sicher)

„Natürlich dürfen sie hier in die Schule! In Deutschland gibt es sogar eine Schulpflicht. Das heißt, der Staat muss dafür sorgen, dass sie eingeschult werden.“

Vater und Mutter schauen sich erleichtert an.

„Von eurem Plan, weiterzureisen, würde ich euch dennoch abraten. Ruht euch lieber hier aus. Wartet ab, wo ihr hingebracht werdet und entscheidet dann, ob ihr weiterreisen möchtet oder bleiben wollt. Wenn ihr hier in einen Zug einsteigt, dann wird euch das wahrscheinlich einen Großteil eures restlichen Geldes kosten. Außerdem ist nicht sicher, ob ihr ankommt. Es kann immer sein, dass ihr in eine Kontrolle geratet und dann wieder in eine Notunterkunft gebracht werdet. Solltet ihr in eurer Zielstadt ankommen, ist es möglich, dass sie euch dort nicht annehmen oder es dann dort auch nicht so schnell geht.“

Beide schauen mich nachdenklich an. Der Mann nickt zustimmend und seine Frau sagt: „Wahrscheinlich hast du recht…“

„Hebt euch das Geld lieber für die Not auf oder geht in ein Restaurant, wenn ihr mal die Suppen und Sardinen in den Unterkünften satt habt und esst etwas Ordentliches.“

Beide bedanken sich bei mir und entschuldigen sich, dass sie meine Zeit so lange in Anspruch genommen zu haben. Ich versichere ihnen, dass es mir eine Freude war, mit ihnen zu reden und wünsche ihnen alles Gute für die Zukunft.

Begegnung 2

Ich übersetze für die Sanitäter. Ein irakischer Kurde aus Karkouk hat allergische Asthmabeschwerden. Die Sanitäter schließen ihn an ein EKG an. Mir fällt sein T-Shirt auf. Es ist die Aufschrift „Samos“ und eine Zeichnung der griechischen Insel zu sehen.

Scherzend sage ich: „Hast du dir ein Andenken aus Griechenland mitgebracht?“

Er grinst und sagt: „Ja, hier sind wir gelandet.“ Er sieht auf sein T-Shirt und sagt: „Ich habe versucht, dort ein paar griechische Worte zu lernen. Sie sagten mir aber (er meinte seine Begleiter), dass das nichts bringt, weil wir ja sowieso nur auf der Durchreise waren und dort nicht bleiben werden.“

Scherzend sage ich: „Incha-Allah wirst du deine Papiere hier erhalten und Arbeit finden. Irgendwann wirst du dort mal als Tourist Urlaub machen.“ Er lacht und sagt: „Incha-Allah.“ (Incha-Allah bedeutet „so Gott es will“ und ist wahrscheinlich die meist genutzte Redewendung in der islamischen Welt).

„Habt ihr die Überfahrt auch in einem Schlauchboot gemacht?“

„Ja und es fiel mir sehr schwer.“ Er verzieht das Gesicht. „Ich hatte große Angst. Ich kann nämlich nicht schwimmen“.

Ich frage seinen Begleiter, ob er schwimmen kann. Er bejaht.

„Was kostete euch die Überfahrt?“

„Tausend Dollar pro Person. Plus die Kosten der Schwimmwesten und der Rettungsreifen. Die muss man sich nämlich selber kaufen. Weißt du, wir waren auf einem Schlauchboot, das für maximal 25 Erwachsene ausgelegt war. Was denkst du, wie viele wir waren?“ fragte er.

„Vielleicht 50?“, schätze ich.

„Nein, wir waren 55 Erwachsene, plus Kinder und unser Gepäck.“, sagt er und verzerrt dabei das Gesicht, als würde er sich an einen Alptraum erinnern.

„Die Wellen waren sehr hoch und einmal wären wir beinahe gekentert. Das Meer war sehr unruhig. Wir haben einen Notruf abgesetzt, weil wir so viel Angst hatten. Die griechische Küstenwache hat uns daraufhin begleitet und uns versichert, dass uns nichts passieren würde. Außerdem wurden wir von einem griechischem Fischerboot begleitet.“

Ich bin von der großen Hilfsbereitschaft beeindruckt und sage: „Gott möge es ihnen vergelten.“

Er schaut mich an, als wäre ich ein naives Kind und sagt: „Du denkst doch nicht, dass die Fischer an unserer Sicherheit interessiert waren?!“

„Wie meinst du das?“, frage ich verwundert.

„Sie wollen nur das Schlauchboot haben. Es ist mindestens 5000 Dollar wert.“

Begegnung 3

Eine mehrköpfige Familie ist soeben mit einem Bus angekommen. Gleich am Empfang werden die Sanitäter zu dem 50-jährigen Familienvater gerufen. Dieser ist schwer verletzt. Ich frage ihn, was ihm passiert ist.

„Ein Geschoss ist vor mir explodiert.“ Der Mann wurde bereits in Syrien behandelt. Trotzdem fassen die Sanitäter den Entschluss, ihn ins Krankenhaus zu bringen.

„Wo ist das passiert?“, frage ich ihn.

„In Damaskus. Wir sind aus Damaskus.“, antwortet er.

„Weißt du, wer euch beschossen hat?“

Er hebt den Kopf an, zuckt mit den Schultern und dreht die Handinnenflächen nach oben und sagt: „Sie kam von oben. Aber wer weiß schon, wer sie abgeschossen hat.“

Der Mann wird später mit seinem Sohn, der ein wenig Englisch kann, in ein Krankenhaus gebracht.

Begegnung 4

Ein junges Paar ist soeben mit dem Bus angekommen. Sie sind mit zwei jungen Mädchen unterwegs. Das jüngere, acht Monate alte Kind hat seit fünf Tagen Durchfall. Dennoch lächelt es süß. Die Sanitäter entscheiden, die Mutter mit dem Kind ins Krankenhaus zu bringen. Als ich die Papiere für sie ausfülle, fällt mir auf, dass das kranke Kind einen Tag vor meinem Sohn geboren ist. Das größere Mädchen ist so alt wie meine ältere Tochter. Wir reden über Kinder. Sie sagen mir: „Möge Allah sie beschützen.“ Ich antworte: „Möge Allah auch eure Kinder beschützen.“

„Die Reise war bestimmt sehr anstrengend für die Kinder.“, sage ich.

„Bei Gott, sie war für uns anstrengender als für die Mädchen. Wir mussten der Kleineren überall hinterherrennen. Sie hatte unendlich viel Energie.“

In der Tat fällt mir auf, dass die Kleine die ganze Zeit durch die Gegend sprang, am Ärmel ihres Vaters zog, sich auf seine Füße stellte und ständig versuchte, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie erinnert mich sehr an meine Tochter.

„Soll die ältere Tochter ihre Mutter mit ins Krankenhaus begleiten?“, frage ich den Vater.

„Nein, ich werde sie bei mir behalten. Sie würde sie nur verrückt machen. So hat sie ein wenig Ruhe.“, sagt er und lächelt müde.

Begegnung 5

Helfer, die sich um die Verteilung der Neuankommenden auf die Zimmer kümmern, rufen mich zu sich. Eine Frau mit drei Kindern sollte in ein Frauenraum. In dem Raum liegt jedoch derzeit ein einzelnes Paar. Ich soll den Mann auffordern, in den Männerbereich zu gehen.

Der Mann akzeptiert problemlos. Ein Helfer bittet mich, noch etwas für ihn zu übersetzen und sagt: „Als ich in den Raum ging, hatte seine Frau kein Kopftuch an. Sie hat dann schnell ihre Haare verdeckt. Ich hoffe, ich habe ihn damit nicht verärgert. Kannst du ihm bitte sagen, dass es mir Leid tut?“ Ich übersetze. Der Mann sagt nur: „Er konnte nicht wissen, dass sie ihr Kopftuch abgelegt hatte. Sag ihm, er soll sich keinen Kopf machen.“

In dem Moment fällt mir das Älteste von den drei Kindern in der Familie auf. Ich frage nach seinem Alter: Er ist zwölf Jahre alt. Die Frau, die schon im Raum war sagt: „Der ist ja schon in der Pubertät. Zwölf Jahre ist nicht mehr jung. Dann werde ich die ganze Zeit mein Kopftuch anbehalten müssen.“ Ihr Mann verlässt den Raum. Er scheint zwar nicht sonderbar glücklich mit der Situation zu sein, akzeptiert sie aber. Die Helfer überlegen kurz und entscheiden, der Frau mit ihren Kindern doch einen anderen Einzelraum zu geben.

Später treffe ich die Frau mit ihren Kindern wieder. Sie haben sich verirrt und suchen eilig nach dem ihnen zugewiesenen Raum. Während ich sie dort hinbegleite, erzählen sie mir, dass ihr Onkel aus Karlsruhe gekommen ist, um sie abzuholen. Sie nehmen ihre Taschen und verlassen die Unterkunft.

Begegnung 6

Eine Frau ist soeben mit dem Bus angekommen. Sie kommt zu den Sanitätern und gibt an, herzkrank zu sein und täglich Tabletten schlucken zu müssen. Sie zeigt dem Sanitäter einen leeren Blister und bittet um neue Tabletten, da sie ihr ausgegangen sind. Die Sanitäter prüfen ihren Puls und untersuchen sie. Ihr Herz scheint in Ordnung zu sein. Die Frau ist erleichtert. Sie soll am nächsten Morgen nochmal vorbeikommen. Ihre Tabletten sind nämlich nicht vorrätig und müssen bestellt werden. Bevor sie geht, fragt sie: „Gibt es hier etwas zu essen? Bei Gott, ich habe seit zwei Tagen nichts mehr gegessen.“ Wir sagen ihr, dass sie hier schlafen, essen und sich waschen kann.

Sie lächelt und scheint sich wirklich zu freuen.

Begegnung 7

Im Essensbereich sehe ich ein Kind mit einer weiten, grauen Hose. Ich glaube, in ihm den Jungen zu erkennen, den ich einen Tag zuvor an der deutsch-österreichischen Grenze gesehen habe, als sein Vater ihm half, auf der Brücke über das Geländer in den Fluss zu urinieren. Ich frage mich, ob all die heute Anwesenden vielleicht die gleichen Leute sind, die ich dort in der Kälte warten gesehen habe. Ich schaue mich um und suche nach dem nierenkranken Mann, doch ich finde ihn nicht. Ich rede mir ein, dass er wahrscheinlich irgendwo in Behandlung ist. Der Gedanke tut gut. Doch entspricht er auch der Wahrheit?

Begegnung 8

Ich gehe durch die Gänge. Ein Helfer, begleitet von zwei Flüchtlingen, kommt mir entgegen. Er fragt mich auf Arabisch wo die Kleiderausgabe ist. Der Helfer kommt mir bekannt vor. Dann erkenne ich den Mann aus der ersten Begegnung an diesem Tag. Der, dem noch 400 Euro nach seiner Reise übrig geblieben sind. Ich sage zu ihm:

„Ah, du bist jetzt auch Helfer!“, und lächle ihn dabei an.

„Als wir gestern Abend hier angekommen sind, habe ich mich freiwillig gemeldet. So kann ich wenigstens die Zeit totschlagen. Ich kann hier ja sonst nichts machen.“

Ich erkläre ihm, wo die Kleiderausgabe ist. Er bedankt sich und geht.

In Syrien war er im Marketing tätig.

 

 

 

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