Meine Revolution: Prolog

In den letzten Monaten habe ich viel über bzw. von syrischen Flüchtlingen erzählt. Heute will ich meine Geschichte erzählen. Die Geschichte der tunesischen Revolution, so wie ich sie erlebt habe. Ich werde nicht versuchen die Vorkommnisse journalistisch oder gar historisch aufzuarbeiten. Ich werde lediglich meine ganz persönliche Sicht auf die Geschehnisse von vor fünf Jahren wiedergeben.

Diese Geschichte werde ich in mehrere Artikel aufteilen. Der heutige Artikel ist ein Prolog, in dem ich meine Eindrücke von Tunesien wiedergebe, wie ich es in meiner Kindheit kennengelernt habe.

Prolog: Das Feuer schwelt unter der Asche

Es war irgendwann im November 1987 – ich war gerade mal acht Jahre alt – als ich den ersten Eindruck über das Regime in Tunesien vermittelt bekam. Einen Eindruck, den ich ohne Zweifel damals noch nicht einordnen konnte. Ich kann mich noch genau an diesen Tag erinnern. Wir lebten in Berlin. Mein Vater saß auf der Couch und schaute Nachrichten. War es die Tagesschau? Ich kann es nicht mehr genau sagen. Ich saß auf dem Boden und spielte mit Lego. Wahrscheinlich baute ich mal wieder ein Piratenschiff. Plötzlich zischte mein Vater: „Schhhh!!! Schhhh!!!“. Das machte er immer, wenn etwas Wichtiges in den Nachrichten kam, damit ich leiser spielte. Er hörte gespannt zu und fluchte dann. Ich kann mich noch erinnern, wie er zornig sagte: „Ausgerechnet dieser Hund“. Es war der Tag, an dem der alterssenile Bourguiba nach 30 Jahren an der Macht durch seinen Innenminister Zine el-Abidine Ben Ali abgesetzt wurde. Ben Ali übernahm die Macht und herrschte 24 Jahre lang autokratisch über das Land.

1988 zogen wir nach Tunesien. Ich war 9 Jahre alt und wir lebten dort bis 1996. Zwar hatte ich nie direkt unter der Diktatur gelitten, doch gab es Situationen und Geschehnisse durch die auch einem Kind und Jugendlichen die Umstände bewusst wurden.

Seit den Anfängen seiner Herrschaft gab ein es Auseinandersetzungen mit den Islamisten. Denn als diese relativ gute Ergebnisse in den ersten freien Wahlen eingefahren hatten, wurde der demokratische Prozess gestoppt, die Partei verboten und die meisten aktiven Mitglieder eingebuchtet. Der Bruder eines Mitschülers war während der Wahlen für die Islamische Partei Ennahdha aktiv. Er verschwand irgendwann und wurde zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt. Es hieß offiziell, er hätte Anschläge mit Molotowcocktails geplant. Auch wenn niemand sagen kann, was damals genau passierte, so glaubten wir Kinder jedoch nicht an diese Version. Kurz nach seiner Verhaftung verstarb seine Mutter. Diese Umstände hatten mich damals lange beschäftigt.

Meine Schwester hatte zur gleichen Zeit studiert und lebte in Tunesien in einem Studentenheim. Eines Tages holte mein Vater sie ab und sie erzählte uns, wie die Polizei mit Tränengas durch die Fenster der Heime geschossen hatte und die Studenten auf den Knien die Gebäude verlassen mussten.

Die islamische Nahdha Partei, die damals verboten wurde und deren Mitglieder entweder verhaftet wurden oder ins Exil geflohen sind, empfanden wir als Kinder als die Unterdrückten. Jeder kannte ein aktives Mitglied der Nahdha, meist waren diese gebildet und keineswegs extremistisch.

Zu dieser Zeit war der Salafismus bzw. der Wahabismus in Tunesien nicht verbreitet und als generell eher unbekannt. Es reichte bereits einen Bart zu tragen oder regelmäßig in eine Moschee zu gehen, um verdächtigt zu werden. Vor den Moscheen standen Polizeiwagen und erstellten Listen der Betenden. Bärtige oder Kopftuchtragende wurden regelmäßig auf die Polizeiwache zitiert und schikaniert. Es herrschte eine stickige Stimmung und das Religiöse wurde aus Furcht vor Repression gemieden.

Bärtigen wurden die Bärte verboten und Frauen das Kopftuch und so verschwanden diese in einem islamischen Land fast vollständig von dem Straßenbild. Männer und Frauen, die sich wiedersetzten, wurden in Polizeistationen zitiert und mussten täglich eine Unterschrift setzen.

Und die Angst beschränkte sich nicht nur auf das religiöse Leben, sondern war auch sonst präsent. Über Politik sprach man nur mit Menschen, denen man vertraute. Überall wurden Spitzel vermutet. Oft hieß es: „Hör auf darüber zu reden. Wir bekommen noch Probleme. Die Wände hören mit.“ Wenn mein Vater auf der Straße über den Präsidenten redete, flüsterte er und wenn wir in Tunis am Innenministerium vorbeigingen, wechselten wir die Straßenseite.

Als Ben Ali an die Macht kam gab er an, den Personenkult, der zu Zeiten Bourguibas herrschte, abzulehnen. Doch sehr schnell verfiel das Land dem Zahlenkult. Um genauer zu sein dem „Sieben“- Kult. Ben Ali ergriff die Macht nämlich am siebten November und so wurde alles zum „Siebten November“ umgetauft. Es gab die Straße des siebten November, den Platz des siebten Novembers, das Krankenhaus, das Kaffee, die Bücherei und überall wurde eine Sieben aufgestellt. Die Sieben wurde auf Geldscheine gedruckt oder auf Kreisverkehren in Form von „Kunstwerken“ aufgestellt. Man erzählte sich, dass einzig, als ein Fleischer sein Schlachthaus „Schlachthaus des siebten Novembers“ nennen wollten, es zu viel des Guten war und die Staatsmacht ihm das Geschäft schloss. Die Doppeldeutigkeit war dann doch zu pikant.

Und trotz des Siebenkults verschwand der Personenkult keinesfalls. Überall hingen weiterhin Bilder von Ben Ali: auf Straßen, in Ämtern, in Läden, in Schulen und selbst bei meinem Vater im Büro. Mein Vater hat Ben Ali immer verachtet und trotzdem besorgte er sich eines Tages ein Bild des Präsidenten, rahmte es in einem schwarzen Rahmen ein und hängte es über seinen Schreibtisch. Als ich ihn danach fragte, sagte er: „Wenn ich sein Bild dort nicht aufhänge, werde ich nie Aufträge bekommen.“

In der Schule hatten wir ein Fach, das „Zivile Erziehung“ hieß. Eigentlich sollte dieses Fach ein politisches Bewusstsein bei den Schülern aufbauen, doch auch uns war klar, dass das Gelehrte Lichtjahre von den tatsächlichen Zuständen entfernt war.

Und man merkte auch die Angst der Diktatur vor dem Bewusstsein des Volkes. Die Zensur war überall. In den Büchereien gab es kaum Bücher. Die Zeitungen waren gleichgeschaltet. Immer wieder wurden Ausgaben der internationalen Presse verboten. In dem einzigen nationalen Sender hieß es in den Nachrichten jeden Tag: „Der Herr Präsidenten Ben Ali ermöglichte dies oder ermöglichte das“. Überhaupt gab es in Tunesien kaum Möglichkeiten sich unabhängig zu informieren. Es gab drei Fernsehsender. Neben dem französischen Sender France 2 und dem italienischen Sender Rai Uno, gab es nur einen einzigen staatlichen tunesischen Sender: Kanal 7 – wie sollte er auch anders heißen.

Dann irgendwann um das Jahr 1994, erschienen die ersten Satellitenschüsseln und auf einmal hatten die Menschen Zugang zu hunderten Sendern, auf die die Behörden keinen Einfluss mehr hatten. Und auch wenn die Schüsseln von der Regierung umgehend verboten wurden, so besaßen auch wir bald eine solche Schüssel. Wir stellten sie in den Garten auf und versteckten sie zwischen ein paar Bäumen.

1996 schließlich verließen wir Tunesien und kehrten nach Deutschland zurück.

Und so vergingen die Jahre. Immer wieder verbrachte ich meine Sommerferien in Tunesien. Nie veränderte sich etwas, das Land stagnierte. Niemand redete über Politik. Ben Ali war ein Tabuthema. Zumindest in der Öffentlichkeit. Hinter verschlossener Tür redete jeder über den Diktator. Vor allem aber auch über seine Frau – die Frisörin – und ihrer Familie: die Trabelsia. Viele Geschichten kursierten über sie. Viel wurde spekuliert darüber, was sie besaßen und wie sie zu ihren Reichtümern kamen.

Der Mann meiner Schwester – selbst Inhaber einer kleinen Schuhsolenfabrik – erzählt mir einst, dass viele Geschäftsmänner ihre Geschäfte und Fabriken mit Absicht klein halten würden, weil sonst die Trabelsia sich eine Beteiligung an den Geschäften einverleiben würden.

Bekannt war auch, dass die Trabelsia den Schmuggel in Tunesien fest in der Hand hatten und vieles aus Libyen oder auch über Europa nach Tunesien, ohne Steuern, ins Land schmuggelten und somit der lokalen Wirtschaft massiv schadeten.

Auch wenn sich mein Vater immer wieder über die Passivität der Tunesier ärgerte, so gab es einen Satz den er öfter sagte und an den ich mich bis heute erinnere: „Le feu couve sous la cendre“ oder auf Deutsch: „das Feuer schwelt unter der Asche!“.

Und er sollte Recht behalten.

3 Gedanken zu „Meine Revolution: Prolog“

  1. Danke für den Blogpost und Deine persönlichen Eindrücke aus der Kindheit, gerne gelesen, ich freue mich auf die Fortsetzung.
    Wir hier in Deutschland kennen Tunesien ja meist nur aus dem Urlaubskatalog und dann nur die Gegend um Monastir bzw. Djerba, also definitiv zu wenig…

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    • Danke Sabine für dein Kommentar. Es ist aber auch normal, damals ohne Internet, war es auch schwierig sich zu informieren. Ich lebte übrigens in einer damals unbekannten kleinen Stadt mit dem Namen Enfidha. Heute ist der Name bekannter, weil es dort nun seit ein paar Jahren einen Flughafen gibt.

      Grüße Karim

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