Tag 15: Dornach

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Freitag, der 30.10.2015.

Für die Nacht von Freitag auf Samstag wurden bis zu 1500 Flüchtlinge in der Notunterkunft Dornach angekündigt. Da ich unter der Woche nur schwer solche Nachtschichten schieben kann, habe ich mich entschlossen, die Nacht dort zu verbringen und blieb von 23:00-7:00 Uhr.

Bei meiner Ankunft stellte ich fest, dass ich nicht der Einzige war, der diesen Gedanken hatte. Die Unterkunft war voller Helfer. So viele habe ich bisher an keinem Abend erlebt. Es waren auch einige neue Gesichter dabei. Mich freut diese Tatsache sehr, denn es widerspricht der Behauptung, dass die Hilfsbereitschaft nachlassen soll.

Neben den Helfern waren bei meiner Ankunft nur eine Handvoll Flüchtlinge in der Unterkunft. Die Helfer nutzten die Zeit, um sich auf die Busse vorzubereiten, Kleidung zu sortieren oder einfach nur zu plaudern.

Dann kamen die Busse.

Die meisten Leute kamen von der deutsch-österreichischen Grenze, einige Busse brachten aber auch Menschen aus der Maria-Probst-Straße. Hauptsächlich handelte es sich um Afghanen. Außerdem kamen viele Syrer und Iraker, sowie einige Iraner. Ein junger Mann aus den Komoren war ebenfalls unter ihnen.

Die meiste Zeit verbrachte ich wieder bei den Sanitätern der Johanniter. Während meiner Arbeitszeit sah ich Menschen, die Schwächeanfälle erlitten und kollabierten. Andere hatten einen grippalen Infekt. Ich sah Kinder, die seit mehreren Tagen unter Durchfall litten und sich regelmäßig übergaben. Es gab sogar einen Verdacht auf Tuberkulose, der sich dann glücklicherweise als Fehlalarm herausstellte. Es gab viele alte, gebrechliche Menschen, aber auch kräftige, junge Leute, die eigentlich nur ein Ziel hatten: Ihre Reise fortsetzen.
Und eine Sache hatten alle Menschen gemeinsam: Sie waren alle erschöpft.

Man könnte meinen, dass sich unter all den Menschen und nach acht Stunden Tätigkeit vor Ort viele Geschichten angesammelt haben, doch das Gegenteil war der Fall. In dieser Nacht habe ich nur sehr wenige Gespräche geführt, da ich ständig unterwegs war. Es haben sich daher nur sehr selten Unterhaltungen ergeben. Die wenigen, die sich ergeben haben, möchte ich hier mit Euch teilen.

Begegnung 1

Ein Mann liegt, angeschlossen an ein EKG, bei den Sanitätern. Er erzählt mir, dass er aus Mosul im Irak kommt. Geflohen ist er vor dem IS.

„Ich habe lange gegen sie gekämpft. Aber ich bin müde geworden. Es nimmt kein Ende.“

„Mosul ist die Hauptstadt von Daech (IS) im Irak, oder?“, frage ich.

„Ja, es ist schwierig dort geworden.“, sagt er. Dann fügt er hinzu: „Ich werde in Deutschland nicht erzählen, dass ich Soldat war.“

„Warum nicht?“

„Sie werden mich der Fahnenflucht anklagen und zurückschicken.“, sagt er überzeugt.

„War die Reise anstrengend?“, frage ich.

„Ja, aber ich bin kräftig und gesund. Als wir von der Türkei nach Griechenland unterwegs waren, kenterte unser Boot. 46 Insassen sind ertrunken. Ich bin geschwommen und konnte die Küste erreichen.“, erzählt er.

Er beschwert sich über ein Piepen in seinem Ohr. Er sagt, dass es von den Schüssen und den Explosionen der Bomben in seiner Nähe kommt. Er leidet schon seit fünf Monaten darunter.

Als er den Sanitäter-Bereich verlässt, sagt er noch zu mir: „Wäre mein Land nicht im Krieg, ich hätte es nie verlassen. Was soll ich hier? Was soll ich in Europa?“

Begegnung 2

Ein junger Syrer erzählt mir, dass er die schwedische Staatsbürgerschaft hat und dass er eigentlich seit sieben Jahren in Schweden lebt. Er trägt die ganze Zeit eine Stirnlampe und eine gelbe Helferweste.

„Ich bin zurück nach Syrien gegangen und habe meine Mutter und meine Tante nach Deutschland gebracht. Meine Tante sitzt im Rollstuhl. Das hat uns sehr lange aufgehalten.“

„Du bist nach Syrien gegangen, um deine Mutter auf ihrem Fluchtweg zu begleiten?“

„Ja, schließlich kann sie den Weg nicht alleine auf sich nehmen.“

„Warum ist deine Mutter überhaupt in Syrien, wenn du doch schon seit sieben Jahren in Schweden lebst?“

„Sie hat sich nach einem Familienstreit von meinem Vater getrennt und lebte seitdem in Syrien.“

 

Begegnung 3

Zwei arabische Helfer stehen im Wartebereich der Sanitäter um eine alte, schmächtige Frau herum. Sie sieht sehr geschwächt aus und sitzt in einem Rollstuhl. Beide Helfer sehen betroffen aus. Als ich näher komme, sehe ich, dass die Dame Tränen in den Augen hat. In einem Ohr steckt ein Kopfhörer. Ich frage einen der Helfer, ob sie alleine hier ist.

„Ja, sie ist alleine hier. Rede mit ihr, es ist verrückt. Ich verstehe das nicht.“

Ich schätze, dass die Frau über 60 Jahre alt ist. Sie ist klein und sieht abgemagert aus. Hinter ihr ist ein Rucksack, eine große Handtasche und zwei große Tüten. Ich frage den Helfer: „Wie konnte sie das alles hierher bringen?“

„Ja eben! Ich verstehe es nicht.“, antwortet er.

Ich knie mich vor die alte Frau, grüße sie und frage: „Woher kommst du?“

„Aus Halab.“, sagt sie mit weinerlicher Stimme.

„Wie hast du es alleine hierher geschafft?“

Sie hebt den Zeigefinger der rechten Hand und sagt: „Allah hat mich hierher gebracht. Er hat es mir ermöglicht.“

„Haben dir Leute unterwegs geholfen?“

„Allah alleine hat mir geholfen!!“, sagt sie.

„Hast du Familie hier, die vor dir geflohen sind?“, frage ich in der Hoffnung, dass sie ein Ziel hat. Irgendwo, wo sich ihr jemand annimmt.

„Ich habe zwei Brüder.“, sagt sie und fängt an zu weinen. „Sie sind beide in Halab zurückgeblieben. Sie konnten wegen der Belagerung nicht fliehen.“ Ihre Stimme ist schwach und ihre Augen rot. „Ich habe noch zwei andere Brüder. Sie sind verschwunden. Einer vor zwei, der andere vor drei Jahren.“, sagt sie weinend. Mir fällt nichts ein, was ich zur Beruhigung sagen könnte. „Und ein Bruder wurde getötet, als er losging, um Essen für seine Kinder zu holen.“ Es tat weh, ihr zuzuhören. Diese alten Dame, die so viel ertragen musste und nun in einem fremden Land angekommen ist. Sie hatte nichts, außer sich selbst und Allah, dem sie so sehr vertraute. Als sie zu den Ärzten gerufen wird, reicht sie einem der beiden Helfer die Kopfhörer und ein Handy und bedankt sich.

Als sie weg war, erzählte er mir, dass sie am Anfang so sehr geweint hat, dass er ihr angeboten hat, den Koran auf seinem Handy zu hören, was sie dankend annahm. Die rezitierten Verse hatten sie dann etwas beruhigt.

Begegnung 4

Ein korpulenter, etwas älterer Mann wartet im Sanitäter-Bereich. Er ist mit seiner Tochter und ihren drei kleinen Söhnen unterwegs. Er fragt mich, wo er ist und wie lange sie hier bleiben. Ich sage ihm, dass sie in Dornach in der Nähe von München sind und wahrscheinlich nur eine Nacht hier bleiben werden.

„Ich habe auf der Reise die Hälfte meiner Familie aus den Augen verloren. Ich bin hier mit meiner Tochter und meinen Neffen. Wir wurden von ihrem Mann, meiner Frau und anderen Mitgliedern meiner Familie getrennt“, sagt er fassungslos.

„Wo ist das passiert?“, frage ich ihn.

„An der Grenze zu Österreich. Sie nahmen uns aus dem Zug und führten uns in Busse. Wir mussten schnell einsteigen, ohne Rücksicht auf unsere Familien. Daraufhin verlor ich sie aus den Augen. Sie sind wahrscheinlich in einen anderen Bus eingestiegen. Kommen alle Busse hierher?“

„Nein, nicht unbedingt. Wir erwarten zwar noch einige Busse heute Nacht, aber es ist nicht sicher, dass auch ihr Bus zu uns kommt. Könnt ihr sie vielleicht anrufen? Per Whatsapp vielleicht?“

„Nein, wir haben kein Handy. Es ist bei ihnen geblieben.“

„Habt ihr Familie in Deutschland?“

„Ja, ihren Bruder“, sagt der alte Mann.

„Dann ruft ihn doch an und sagt ihm, wo ihr seid. Mit etwas Glück kommt der Rest deiner Familie auf den gleichen Gedanken und ruft ihn auch an.“

Der alte Man schaut seine Tochter an. Diese sagt: „Wir haben seine Nummer nicht. Wir haben gar keine Nummer dabei.“ Ich überlege, aber mir fällt kein Weg ein, ihnen schnell zu helfen. Ich frage andere Helfer, ob sie eine Idee haben. Doch auch da kann niemand helfen. Ich sage dem Mann, er soll in der Früh in den Essensbereich gehen und Ausschau nach ihnen halten. Sollten sie in der Nacht nach Dornach kommen, hätten sie dort die besten Chancen, sie wieder zu finden.

Er bedankt sich.

Später

Um sechs Uhr in der Früh wird den letzten Syrern ein Zimmer zugewiesen. Als ich die Unterkunft verlasse, warten noch ungefähr vierzig Afghanen darauf, ein Zimmer zu bekommen. Größtenteils junge Männer, doch auch Frauen und Familien mit Kindern. Sie sehen müde und dennoch voller Hoffnung aus. Ich denke an die immer lauter werdenden Rufe aus der Politik, sie abzuschieben. Eine Helferin afghanischer Abstammung erzählte mir an diesem Abend, dass viele Afghanen verunsichert sind und Angst haben, abgeschoben zu werden.

Haben sie dafür den langen Weg auf sich genommen?

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