Tag 21: Dornach

en

Montag, der 23.11.2015

Auch wenn Dornach am Ende des Monats geschlossen werden soll, wurden vor Kurzem erst wieder 600 Flüchtlinge dorthin verlegt. Zum Teil sind diese nun seit über einer Woche dort untergebracht und niemand weiß so genau, wie es weiter gehen soll. Auf Anfrage kam die Info, dass zumindest ein Teil von ihnen bis zu drei Wochen dort bleiben soll, was aufgrund der bevorstehenden Schließung ein Problem darstellt. Ich war jedenfalls mal wieder von 19:00 bis 1:00 Uhr vor Ort und habe beim Dolmetschen geholfen. Wie meistens kam es wieder zu einigen Begegnungen, von denen ich hier berichte.

Begegnung 1

Ich komme zu den Sanitätern der Johanniter, um zu übersetzen. Ein Mann sitzt im Rollstuhl und hat ein Bein vor sich ausgestreckt. Er ist Syrer und kommt aus Ladhiqia. Bei ihm fällt mir sofort ein relativ großes Tattoo mit einem Kreuz am Handgelenk auf. Ich gehe davon aus, dass er Christ ist. Ich frage ihn, was mit ihm passiert ist.

„Ich habe einen Antrag für ein Studentenvisum in der deutschen Botschaft im Libanon eingereicht. Diesem wurde auch stattgegeben. Für das Visum habe ich eine deutsche Krankenversicherung abschließen müssen. Jedoch fehlte mir noch ein Eintrag aus Syrien in meinem Pass. Für diesen Eintrag reiste ich ein letztes Mal aus dem Libanon nach Damaskus zurück. Dort passierte es dann.“ Während er sprach verzog er schmerzerfüllt das Gesicht. Am Ende senkte er den Kopf, als würde er warten, bis eine Schmerzwelle vorübergeht.

Als er sich wieder einigermaßen gefangen hatte, frage ich weiter: „Was ist passiert? Wurdest du angeschossen?“

„Ich stand auf einem Balkon, als ein Geschoss in das Gebäude eingeschlagen ist. Dabei wurde ich verletzt. Finanziert durch die Kirche wurde ich dann im Libanon notoperiert. Die OP ging schief und seitdem quälen mich heftige, jeden Tag schlimmer werdende Schmerzen.“

„Wie bist du denn in deinem Zustand bis nach Deutschland gekommen?“

„Ich hatte das Studentenvisum und konnte herfliegen.“

„Ah, ich verstehe. Und jetzt lässt du dich hier operieren?“

„Ich würde gerne, aber da ich im Libanon schon behandelt wurde, lehnt die deutsche Versicherung eine weitere OP ab. Sie sagen, dass es sich dabei um eine Fehlbehandlung handelte und daher nicht die ursprüngliche Verletzung für meine Schmerzen verantwortlich ist. Aber was hätte ich denn machen sollen? Es war eine Notoperation!“

„Wahrscheinlich erwarten sie, dass du zuerst bei denen anrufst, damit sie dir sagen können, wo du dich behandeln lassen sollst.“

„Ja, wahrscheinlich.“

Begegnung 2

Während ich durch die Gänge gehe, kommen zwei junge Syrer auf mich zu und fragen:

„Bruder, hast du Arbeit für uns? Bitte, irgendwas. Wir sitzen die ganze Zeit nur rum. Außer Essen und Schlafen haben wir hier nichts zu tun. Wir drehen langsam durch. Wir brauchen etwas, um uns zu beschäftigen.“

„Wie lange seit ihr denn schon hier?“

„Ich bin seit einem Tag hier und er seit vier Tagen.“, sagt der eine und zeigt dabei auf den zweiten jungen Mann.

Ich überlege, was sie machen können und frage auch ein paar andere Helfer, jedoch ist es bereits spät und daher gibt es nicht mehr viel zu tun.

„Könnt ihr Englisch?“

„Ich kann sehr gut Englisch.“, sagt einer der beiden.

„Dann könntest du vielleicht für die Sanitäter übersetzen.“

„Ja das mache ich schon manchmal. Ich stelle mich einfach in den Sanitäter-Bereich und übersetze für jeden, der es braucht.“

Ich schaue mit ihnen in den verschiedenen Bereichen vorbei, finde aber keine geeignete Aufgabe. Frustriert sagt der eine am Ende: „Wir würden alles tun, selbst den Müll einsammeln. Hauptsache eine Aufgabe“.

Begegnung 3

Ein junges Paar mit einem Säugling teilt sich ein Zimmer mit einem zweiten befreundeten Paar. Wir gehen in das Zimmer, jedoch finden nur den Vater vor. Wir fragen ihn, ob sie ihr Baby baden wollen. Er antwortet: „Am liebsten würde ich den Kleinen jeden Tag baden. Er schwitzt hier sehr viel und das Wasser tut ihm Gut.“

Wir vereinbaren, dass wir später nochmal vorbei kommen. Bevor wir gehen, sagt der junge Familienvater: „Würdest du mir noch einen Gefallen tun und mir die deutschen Buchstaben aufschreiben? Ich kann zwar die englischen Buchstaben, jedoch sagte man mir, dass es im Deutschen noch andere gibt. Und die Aussprache mancher Buchstaben soll sich vom Englischen unterscheiden. Stimmt das?“

Ich setze mich zu ihm, schreibe alle Buchstaben auf und helfe ihm bei der Aussprache. Er scheint es eilig zu haben, Deutsch zu lernen. Ich sehe bei ihm mehrere Zettel mit transliterierten Vokabeln. Als ich ihm das „ß“ erkläre, sagt er:

„Ich dachte, das ist ein „B“ und habe alle Wörter mit diesem Buchstaben vollkommen falsch ausgesprochen.“

***

Später werde ich gebeten, die frisch gebackene Familie von dem zweiten Paar im Raum zu trennen, damit sie sich auf ihr Neugeborenes konzentrieren können. Wir vermuten, dass sich beide Paare gegen die Trennung aussprechen werden. Doch als ich den Vorschlag unterbreite, stellt sich heraus, dass sich die beiden Paare zuvor gar nicht kannten. Sie sind zwar alle Kurden, doch während die Familie aus Syrien kommt und arabisch spricht, ist das Pärchen aus der Türkei.

Die Trennung geschieht ohne Probleme. Der junge Vater sagt sogar: „Ich bin erleichtert, dass wir endlich ein Zimmer für uns haben. Ich wäre froh gewesen, wenn wir von Anfang an ein eigenes Zimmer gehabt hätten, aber ich dachte, dass ihr keine weiteren Zimmer habt.“

***

Später kommen wir weiter ins Gespräch. Er erzählt mir, dass er aus El-Qamishli kommt. Es handelt sich hierbei um eine Stadt nahe der türkischen und der irakischen Grenze mit einem hohen Anteil kurdischer Bewohner.

„Wie alt ist dein Sohn?“, frage ich ihn und betrachte den Kleinen.

„23 Tage.“ sagt er stolz. Seine Frau hält das Kind und sitzt daneben. „Er kam auf die Welt, während wir in der Türkei unterwegs waren.“, fügt er hinzu.

„Und wie habt ihr eure Reise fortgesetzt?“, frage ich erstaunt.

„Als er zwei Tage alt war, sind wir in ein Schlauchboot gestiegen und haben das Meer überquert.

„Gott sei Dank ist alles gut gegangen!“, sage ich, ohne mir vorstellen zu wollen, wie beängstigend diese Erfahrung sein muss. „War die Überfahrt problemlos?“

„Nicht ganz. Die Küste war sehr felsig und das Boot wurde aufgerissen. Es füllte sich mit Wasser und ich sprang ins Meer. Es reichte mir bis zum Kinn. Ich hielt meinen Sohn mit den Händen über meinem Kopf. Zum Glück half mir ein Mitreisender, der bereits auf einen Felsen geklettert war und nahm ihn mir ab. Dadurch konnte ich dann auch meine Frau aus dem sinkenden Boot retten.“

In dem Moment fängt sein Sohn an zu schreien. Ich blicke in sein zahnloses Gesicht und sage in Gedanken: „Wenn er groß ist, wirst du ihm viel zu erzählen haben.“

Er schaut seinen Sohn an und sagt lächelnd: „Oh ja, sehr viel.“

***

Als seine Frau beginnt, den Kleinen zu stillen, gehen wir in den Gang und unterhalten uns vor dem Zimmer weiter: „Warum bist du eigentlich geflohen? Wegen dem IS?“, frage ich.

„Der IS hat zwar versucht uns anzugreifen, aber er konnte uns nichts anhaben“

„Warum?

„Weil die Kämpfer der PYD („Partei der Demokratischen Union“) und der PKK („Die Arbeiterpartei Kurdistans“) unsere Region verteidigen. Sie sind zu stark. Sie haben Waffen aus dem Westen.“

„Und was hat euch dann zur Flucht getrieben?“

„Das Regime. Sie wollten mich zum Militär einziehen. Dann hätte ich kämpfen müssen. Aber für dieses Regime würde ich niemals kämpfen.“

„Und warum nicht?“

„Weißt du, uns Kurden haben sie nicht mal die syrische Staatsbürgerschaft gegeben. Warum sollte ich dann für sie sterben?“, fragt er mich, ohne eine Antwort zu erwarten.

„Wie lange lebt ihr schon in Syrien?“

„Seit mehreren Generationen, mindestens seit 200 Jahren.“, sagt er und fährt fort: „Weißt du, wir dürfen kein Land und keine Häuser kaufen. Wenn wir Häuser kaufen, dann auf den Namen von Bekannten, die eine Staatsbürgerschaft haben. Da kommt es dann oft zu Betrug.“

„Was für Betrug?“

„Derjenige, auf dessen Namen das Haus zum Kauf eingetragen wird, behält manchmal das Haus einfach für sich. Sowas passiert oft.“

„Aber wieso haben dann doch einige die syrische Staatsbürgerschaft?“

„Das sind die, die eng mit dem Regime zusammenarbeiten. Oft gehören sie zur PKK und zur PYD. Für uns normale Kurden ist das Leben dort sehr schwer. Wir können nicht studieren und haben keine Aussichten auf gute Jobs. Wir werden von der Polizei misshandelt und haben keine Rechte. Und die Situation ist dort jetzt noch schlechter geworden.“

„Meinst du, seit der Krieg begonnen hat?“

„Ja. In letzter Zeit gibt es kaum noch etwas zu Essen. Du kannst deine Familie nicht mehr ernähren.“

„Gibt es denn keine landwirtschaftlichen Flächen, auf denen Gemüse angebaut werden kann?“

„Doch, die gibt es schon. Sie sind aber größtenteils in den Händen der PKK und der PYD.“

„Und die verteilen die Nahrungsmittel nicht an die Bevölkerung?“

„Nein, die werden verkauft, um von dem Geld die Waffen zu kaufen.“

„Ich schreibe ein Blog, darf ich deine Geschichte erzählen? Ich verstehe, wenn du Angst hast, aber es ist alles anonym.“

„Nein, erzähl sie ruhig. Ich habe so viele Schläge eingesteckt, dass mir jetzt nichts mehr Angst macht. Die Menschen sollen unsere Geschichte hören.“

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.