Tag 7: Dornach

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Donnerstag, der 24.09.2015.

Gestern war ich von 19 Uhr bis 1 Uhr in Dornach. Bei meiner Ankunft waren 340 Gäste in der Unterkunft. Später kamen nochmal über 100 Menschen dazu. Es war viel zu tun und ich hatte kaum Zeit, mich länger zu unterhalten.

Situation 1

Ein Syrer ist mit seiner Frau hier und will nach Trier. Er wird seine Frau jedoch als seine Freundin registrieren, weil er in Syrien eine Zweitfrau hat, die er per Antrag auf Familienzusammenführung gemeinsam mit seinem Sohn nach Deutschland holen möchte. Er weiß, dass Polygamie in Deutschland verboten ist. In Syrien ist dies jedoch legal. Er sagt: „Was soll ich machen, soll ich sie im Stich lassen? Ich trage die Verantwortung für sie und werde mich ihr stellen.“
Er ist Anwalt aus Damaskus. Er ist vor den Lebensumständen in Syrien geflohen. Das Regime wird immer autoritärer. Selbst er als Anwalt wird bei jedem Gang zum Gericht schikaniert.

Situation 2

Ein alter weißhaariger Mann, um die 65 Jahre alt, isst eine Zitrone, wie ich eine Orange essen würde und verzieht dabei keine Miene. Ich habe ihn bereits einen Tag zuvor bei den Sanitätern gesehen und für ihn übersetzt. Sein Fuß ist seit 10 Tagen geschwollen und schmerzt. Er sagte, die Schwellung begann während er schlief. Es sieht aus, als hätte ihn etwas gestochen. Ich gehe auf ihn zu und grüße ihn:

„Friede sei mit euch (normale Grußformel in der islamischen Welt) Scheikh (respektvolle Bezeichnung für einen älteren Mann). Wie geht es deinem Fuß heute?“

„Gott sei Dank, aber es hat sich nicht wirklich etwas geändert. (In der islamischen Kultur dankt man Gott immer, ob es einem gut oder schlecht geht).“

„Es war ein anstrengender Weg, nehme ich an. Wie konntest du mit dem Fuß eigentlich so weit kommen?“

„Oh ja, anstrengend war es. Ich kam am Ende nur noch sehr langsam voran. Bei jedem Schritt hatte ich unbeschreibliche Schmerzen.“

„Reist du alleine?“

„Ja, meine Frau und Kinder wollten nicht mitkommen. Ich habe lange versucht, sie zu überzeugen, aber sie wollten nicht.“
Sein Blick, zuvor auf mich gerichtet, fällt nun verbittert an mir vorbei ins Leere. Er schwieg und ich fragte mich: Was muss einen alten Mann treiben, dass er Frau und Kinder hinter sich lässt und so einen langen und beschwerlichen Weg ins Ungewisse auf sich nimmt?

Situation 3

Ich unterstütze eine sehr korpulente syrische Frau dabei, auf ihrem Handy das WLAN einzurichten. Ich frage sie, ob sie sich hinsetzen möchte, während ich versuche die Verbindung herzustellen. Sie sagt: „Kein Problem. Wir sind es gewohnt“ und lächelt dabei. Zu meinem Erstaunen stelle ich später fest, dass sie auch noch mit ihrer ca. 70-jährigen Mutter reiste. Die alte Frau saß in einem Rollstuhl und konnte nicht laufen. Ich frage:

„Entschuldige die Frage, aber wie habt ihr es geschafft, deine Mutter in ihrem Zustand hierher zu bringen?“

„Allah allein hat uns geholfen. Wir hatten zwei Rollstühle dabei. Beide sind unterwegs zerbrochen.“

„Ja und wie seid ihr dann weitergekommen?“

„Wir haben sie in einem Laken getragen. Jeder nahm eine Ecke und so haben wir sie den Rest des Weges transportiert.“

Es verschlägt mir die Sprache. Ich stelle mir vor, wie diese korpulente Frau ihre alte Mutter trägt und wundere mich über die Kraft, die in ihr steckt.

„Möge Allah dich dafür belohnen. Ich kann mir nicht vorstellen, was ihr durchgemacht habt.“ Sie schaut mich an und lächelt nur. Ich frage weiter:

„Wo kommt ihr her?“

„Aus Rif Dimaschq. Weißt du, wir haben keine Häuser mehr dort.“

„Wurden sie zerstört?“

„Ja, bombardiert. Dem Boden gleich gemacht.“

„Von wem? Wer hat euch bombardiert?“

„Erst das Regime, dann die Aufständischen. Wir haben von beiden eins auf die Rübe bekommen.“

Situation 4

Aus einem etwas größeren Nebenraum höre ich lautes Lachen und Singen. Ich gehe hin, um zu schauen, was da los ist. Ein Afrikaner hält eine Gitarre in der Hand. Ein 20-jähriger Syrer baut Stofftiere im Kreis auf und sagt albern und laut: „Wir machen jetzt einen afrikanischen Tanz.“ Dann fängt er und ein paar andere an, im Kreis um die Stofftiere (im Stil alter Indianerfilme) zu tanzen, während eine kopftuchtragende Frau auf einer Djembe trommelt. Um die Szene herum sitzen mehrere Frauen, Männer und Kinder und amüsieren sich.
Ein Mann stellt sich zu mir und erklärt mir: „Morgen ist Aid, also wollten wir die Stimmung etwas auflockern und spontan eine kleine Feier für die Kinder organisieren. Wir sind schon seit drei Tagen hier“ Inzwischen war der afrikanische Indianertanz vorbei. Der junge Mann kam zu mir und fragt mich, ob ich auch Syrer wäre. Als ich ihm antwortete, dass ich Tunesier bin, sagt er laut: „Leute hört mal bitte alle zu: Ich bitte euch alle um lauten Beifall für Tunesien“ Alle klatschen und skandieren „Tunis, Tunis“. Ich muss lachen.
Dann wirft irgendjemand das Wort „Debka“ in den Raum. Die Stofftiere werden weggeräumt und 6 oder 7 junge Männer tanzen eine Debka und singen dazu, während ein anderer auf dem Djembe trommelt.
Der Afrikaner spielte die ganze Zeit mit der Gitarre. Davon war jedoch nicht wirklich etwas zu hören.

Situation 5

Ein junger Mann kommt auf mich zu. Er fragt:

„Du bist Tunesier?“

„Ja.“

„Kannst du mir mit meiner Simkarte helfen? Ich komm nicht ins Internet.“

An seinem Akzent vermute ich, dass er Marokkaner ist. Ich frage: „Du bist Marokkaner?“

„Ja.“

„Du versuchst, hier Asyl zu beantragen?“

„Ja, was soll ich machen. Ich versuch mein Glück.“
In seinem Blick lag die gleiche Verzweiflung und Hoffnung, die ich in vielen anderen Gesichtern gesehen habe. Ich erkläre ihm, wie er seine Karte aufladen kann und gehe weiter.

Situation 6

Ich helfe in der Essensausgabe. Ein kleines Mädchen, ich schätze sie auf 5 Jahre, kommt auf mich zu und sagt bestimmt: „Gib mir Chips“. Ich suche, finde aber keine und biete ihr stattdessen einen Lutscher an. Als sie ihn nimmt, sehe ich in ihrer Hand 4 Schokoladenriegel. Sie nimmt den Lutscher und sagt:

„Gib mir noch mehr. Ich brauche 6.“

„Warum brauchst du 6?“

„Für meine Geschwister.“

„Hm. Sag ihnen, sie sollen herkommen, dann gebe ich ihnen auch welche.“

„Nein!“

„Wieso nein?“

„So! Gib mir 6!“

Wir diskutieren sehr lange. Das kleine Mädchen verhandelt so hart und ohne ein Lächeln, dass ich nahe daran war, nachzugeben. Schließlich nehme ich 5 Lutscher in die Hand und sage zu ihr: „Komm mit, wir gehen zusammen zu deinen Geschwistern. Du zeigst sie mir, dann gebe ich dir die Lutscher“

In diesem Moment kommt ihr Vater dazu. Er sieht die ganzen Süßigkeiten und sagt: „Was willst du denn mit all den Süßigkeiten? Die machen dir bloß deine Zähne kaputt.“ Er besteht darauf, mir seine Frau und Kinder vorzustellen. Ich gebe der Mutter die Süßigkeiten und sage ihr, sie soll sie für das Opferfest am nächsten Tag für die Kinder aufbewahren.

Situation 7

An der Essensausgabe läuft ein junger Mann mit einer Gitarre auf dem Rücken herum. Er ist mir bereits vorher aufgefallen, als ich sah, wie er das Instrument behutsam in seiner Tasche verstaute. Ich gehe zu ihm und frage ihn:

„Bist du Syrer?“

„Ja.“

„Sei willkommen. Hast du die Gitarre aus Syrien mit hierher gebracht?“

„(Er lacht) Nein, ich habe sie gestern hier gekauft. Ein Helfer ist mit mir in die Stadt gegangen. Eigentlich spiele ich Aoud. Meine Eltern werden mir mein Aoud mit DHL schicken.“

Situation 8

Zwei Syrer halten sich im Bereich der Essensausgabe auf. Der eine ist sehr klein und extrem muskulös. Ich vermute, dass er Bodybuilder ist. Der andere ist relativ jung. Bei ihm fällt mir nur das Kreuz an seinem Hals auf. Ich frage die beiden, ob ich ihnen helfen kann. Doch sie ignorieren mich und haben nur Augen für eine blonde Helferin. Sie gehen zu der Helferin und bieten – grinsend und mit großen Augen – an, zu helfen. Als ich später wieder kam, trug der jüngere Mann fleißig Kisten durch die Gegend, während der Muskelmann mit dem Staubsauger die Gänge reinigte.

Situation 9

Ein Bus bringt abends 60 neue Flüchtlinge: Afghanen, Iraker, Syrer und Pakistaner. Den verschiedenen Ankömmlingen werden nach Nationalitäten die Zimmer zugeteilt. Unter all den Menschen sticht eine sehr europäisch aussehende Familie heraus. Ich frage sie, woher sie kommen. Sie antworten: „Kosovo“.
Am Ende bleiben zwei Männer übrig. Ich frage: „Sprecht ihr Arabisch?“. „Ja“ sagt der eine.

„Und du?“

„Nein er spricht kein arabisch, er ist Pakistaner.“

„Ihr reist zusammen?“

„Ja, wir sind gute Freunde.“

„Und wie unterhaltet ihr euch?“

„Auf Griechisch.“
Ich muss lachen. Er erklärt mir, dass beide zusammen in Griechenland gearbeitet haben und sich schon lange kennen. Auch unter den Sanitätern und bei der Registrierung sorgt die ungewöhnliche Freundschaft für Erheiterung.

3 Gedanken zu „Tag 7: Dornach“

  1. Wie schön, endlich eine eigene Seite – Glückwunsch!
    Nicht nur als Mensch, sondern auch als Literaturwissenschaftlerin bin ich immer wieder fasziniert!
    Ein einziger Verbesserungsvorschlag: Mitten im Satz wird „sie“ klein geschrieben, es sei denn, man verwendet es als Anrede. Umgekehrt schreiben meine Studenten „Sie“ häufig klein, wenn sie (!) mich in einer Mail anreden, aber sie sind Muttersprachler!

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    • Hallo Anette, danke für den Hinweis. Du bist in der Tat nicht die Erste die mir das schreibt. Der Text wurde sogar schon 2 einmal korrigiert. Leider hab ich es nicht so mit der Rechtschreibung, bin aber auch erst in der elften Klasse in Deutschland in die Schule gekommen. Aber ich gebe mir Mühe den Fehler abzustellen 

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      • Lieber Karim, ich hab das nicht als Fehler aufgefasst, sondern als Missverständnis aus Unkenntnis – deshalb der Hinweis! Von ‚Fehlern‘ sollte nicht die Rede sein, denn Du hast eine ganz eigene Art der Darstellung, die nicht durch ‚kluge Experten‘ verändert werden darf. Deine lakonische Direktheit ist es vielleicht, die Deine Leser besonders anrührt: Ohne Analysen, Bewertungen oder Sentimentalitäten sprechen die Situationen für sich. Wie viel ist in den von Dir wiedergegebenen kurzen Berichten enthalten, wie viel kann jeder damit verbinden und selbst weiterdenken …

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